Von Beatles bis Schlingensief – der Autodidakt Klaus Beyer wird 70
A-Z One-Man-Art-Factory: Klaus Beyer ist ein Arbeiterkind und kam spät in die Schlingensief-Familie. Er übersetzte die Beatles und sang über seine Glatze – Rührend und kunstvoll ist seine Form der „kulturellen Aneignung“. Ein Lexikon
Afrika Mit dem Film The African Twin Towers tritt Klaus Beyer 2006 zusammen mit Irm Hermann, Patti Smith, Township-Bewohnern aus der Hafenstadt Lüderitz und vielen anderen Mitgliedern des Universums von ➝ Christoph Schlingensief in einem Projekt wahrer Entkolonialisierung auf. Der Name der Stadt stammt aus der Zeit, als Namibia „Deutsch-Südwestafrika“ hieß. Der Film reißt das Thema des Völkermordes an den Herero an, lange bevor der öffentliche Druck groß genug ist, um eine breit aufgestellte gesellschaftliche Debatte darüber in Gang zu setzen. Irm Hermann spielt eine Großgrundbesitzerin, die „den Armen Gutes tun“ und sie deshalb mit deutscher Kultur beglücken will. Elfriede Jelinek und Patti Smith haben Texte
cken will. Elfriede Jelinek und Patti Smith haben Texte beigesteuert. Schlingensief nimmt in dem Film, gewohnt anarchisch, den deutschen Brauch aufs Korn, Denkmäler zu schaffen, um danach vergessen zu können. Ein frühes Beispiel von Wokeness, als sie noch nicht ethnopluralistisch war.BBeatles Als Zeitzeuge erlebt Klaus Beyer die Veröffentlichung von Abbey Road gewissermaßen „live“. In der RIAS-Sendung „Schlager der Woche“ präsentiert Moderator Lord Knud gleich zwei Titel aus dem Album, der 17-jährige Klaus ist davon so beeindruckt, dass er von nun an Fan der Beatles ist. Aus seiner Sicht bedeutet das, die Songs zu transkribieren und zu übersetzen (➝ Mutter). Im Laufe der Jahrzehnte entwickelt er daraus eine eigenständige Marke. Heute liegen über 100 Songs der Beatles auch in einer Klaus-Beyer-Version vor. Here Comes the Sun wird zu Die Sonne kommt, I’ve Got a Feeling zu Ich hab Gefühle. Manchmal bleibt er ganz nah am Original (Gelbes Unterwasserboot), manchmal kommt es zu Neudichtungen (Weil die Gitarre sanft weint). Wichtig ist ihm, dass sich die Sprache genau ins Taktgefüge der Songs einbetten lässt.CChristoph Schlingensief Klaus Beyer gehört ab 1999 zum harten Kern um den Kunstvisionär Christoph Schlingensief (➝ Afrika). Sein Tod im August 2010 ist ein Schicksals-Skandal für das Kulturleben des Landes. Obgleich seine alle Konventionen sprengenden Theater- und Filmproduktionen bereits seit Ende der 1980er Jahre eine Ahnung geben von der heute tief in der Gesellschaft verankerten Hysterie, die ohne Unterlass Schweineherde um Schweineherde durch die medialen Dörfer treibt, fehlt er nun an allen Ecken und Enden. Sein Umgang mit den Wladimir Donalds dieser Erde würde neue Assoziationsräume schaffen.Am anderen Ende der Skala würde er sicher lustvoll die Blasen der aufgeheizten Identitätsdiskurse zum Platzen bringen. Es ist fast so, als hätte erst sein Tod Platz geschaffen für die grassierende moralische Borniertheit, die über ihrem Eifer, „gerecht“ zu sein, nur noch damit beschäftigt ist, zu bestimmen, wer dazugehören darf und wer ausgeschlossen wird. In Schlingensiefs Werk ist die Inklusion das eigentliche Merkmal. Um alle Grenzen zu sprengen, müssen eben alle mitmachen.FFrank Behnke Dem Filmemacher und Musiker Frank Behnke ist es zu verdanken, dass Klaus Beyers Werk einer breiteren Öffentlichkeit als seiner Familie zugänglich wird. Selbst das wohl umfangreichste Beatles-Archiv Berlins pflegend und damit als Sir Frank die Beatles-Radioshow Nothing Is Real bestückend, lernt er Klaus Beyer 1986 bei Dreharbeiten kennen. Vom Vertrieb der immer regelmäßiger erscheinenden CDs über die Gestaltung des Artworks bis zum Booking von Konzerten im ganzen deutschsprachigen Raum und zur Organisation von Filmvorführungen: Frank übernimmt von nun an das Management des Künstlers und wird für ihn wie ein Bruder. Auch nach Beyers Schlaganfall ist er an seiner Seite.GGlatze Mit dem Originalsong Die Glatze findet Klaus Beyers Poesie bereits 1982 ganz zu sich selbst: „Ich habe nicht ein Haar. Hab eine Glatze ja. Ich hab keine Probleme, mit irgendeiner Mähne. Ich brauche keinen Kamm. Ich brauch nur einen Schwamm. Ich machte Ritze-Ratze. Jetzt hab ich eine Glatze.“ Klaus steht für den Super-8-Film mit über den Kopf gezogener Gummi-Glatze vor einem weißen Betttuch in seinem Wohnzimmer, hat Kamm und Schwamm zwecks Untermauerung auf einem Tischchen neben sich und performt den 1:45-Minuten-Song in seiner konzentriert-präzisen Art. 1999 produziert SURF ein Remix. MTV Englandnimmt den Song in die Heavy Rotation.KKerzenwachs 1971 legt Klaus Beyer in München seine Gesellenprüfung als Kerzenwachszieher ab. In dem Film Das andere Universum des Klaus Beyer von Georg Maas und ➝ Frank Behnke zeigt er stolz die für die Prüfung angefertigte Kerze mit dem Berliner Bären als Wachs-Applikation darauf. Er wird bis 1994 in der „IDe Kerzen- und Wachswarenfabrik“ arbeiten. Nach dem Umzug der Fabrik verbringt er drei Jahre in Aurich, für ihn die einzige längere Zeit überhaupt außerhalb von Westberlin. Wegen der im oben genannten Film vorgebrachten Forderung seiner ➝ Mutter nach einer Lohnerhöhung und allgemeiner Beschwerden über einen neuen Vorgesetzten wird er 1997 entlassen. Der Film wird im Fernsehen gezeigt und offenbar auch von diesem Vorgesetzten gesehen. Jetzt muss sich Klaus Beyer auf seine künstlerische Arbeit fokussieren, und dank seines umtriebigen Freundes Frank Behnke gelingt das für eine erfreulich lange Zeit.LLoops Mit Hilfe eines handelsüblichen Tonbandgeräts kreiert Klaus Beyer den Soundteppich, über dem sein Gesang schweben kann. Takt für Takt kopiert er die Instrumentalteile der einzelnen Songs und hängt sie über die benötigte Länge aneinander. So entstehen regelrechte Loops, in denen der bekannte Sound der ➝ Beatles seltsam repetitiv und stockend eine ganz eigene musikalische Grundlage schafft, auf der Beyers mitunter fragile Stimme croonen kann. Tritt er auf, macht er einfach das mitgebrachte Gerät an und singt über diese Aufnahmen. Dass er sich mit dieser Technik gerade in den 1980ern mit ihren immer ausgefeilteren technischen Möglichkeiten – zusammen mit der Hip-Hop- und Rap-Kultur – ganz weit vorn in der Pop-Avantgarde bewegt, ist ihm in keinster Weise bewusst. Er macht das schlicht, um seine deutschsprachigen Neuinterpretationen zu singen. Später gibt er auch Konzerte mit eigener Band, was auf Youtube gut dokumentiert ist.MMutter Nachdem Klaus Beyer also die ➝ Beatles für sich entdeckt hat, wundert sich seine Mutter, dass er nun nur noch auf Englisch singt. Schließlich trällert er die im Radio aufgeschnappten deutschsprachigen Schlager schon seit seiner Kindheit. Diese britische Band scheint nun seine ganze Aufmerksamkeit zu bekommen. Das Übersetzen der Songs ins Deutsche ist für Klaus Beyer ein Mittel, die skeptische Mutter einzubeziehen. Aus ihrem anfänglichen Belächeln wird nur langsam Erstaunen über die Ernsthaftigkeit, mit der er das vermeintliche Hobby ausübt. Die endgültige Brücke zur Popwelt wird 1994 mit einem Gastauftritt auf dem neuen Studioalbum Hauptsache Musik der Band MUTTER geschaffen. Der Kreis schließt sich.SSuper 8 1978 bekommt Klaus Beyer von seinem Vater eine Super-8-Kamera geschenkt. Mit dem Umzug in eine eigene Wohnung erweitert sich das künstlerische Schaffen des Autodidakten. Er beginnt kleine Filme und wunderbare Trickfilme mit dem Stop-Motion-Verfahren zu drehen. Drehorte sind seine Umgebung und die Wohnung. Auf dem Fußboden des Wohnzimmers legt er aus Papier ausgeschnittene Figuren aus und animiert sie mit zum Teil übermenschlich anmutendem Abstraktionsvermögen. Braucht er die 180-Grad-Drehung einer Figur, schneidet er so viele Anschnitte von ihr, dass im fertigen Film dann tatsächlich eine fließende Drehung erscheint. 1987 werden seine Filme vom Verleger Martin Schmitz auf der documenta 8 in Kassel präsentiert.PProletariat Klaus Beyers Vater ist Buchbinder, seine ➝ Mutter arbeitet in einer Spirituosenfabrik, bevor sie Hausfrau wird und die Kinder aufzieht. Damit ist Beyer dem auch in Westberlin existierenden einheimischen Proletariat zugehörig, wo große Familien in beengten Räumen leben, ein Auskommen in Fabriken finden und die wichtigsten Kulturräume die zahlreichen, leider verschwindenden Eckkneipen sind. Klaus Beyer gehört zu dieser fast untergegangen Welt. So ist sein Schaffen auch ein interessanter Beitrag zur Klassismusdebatte. Die Person, die sich am wenigsten darum kümmert, aus einem sogenannten bildungsfernen Milieu zu stammen, ist Klaus Beyer selbst. Von keinerlei Dünkel beeindruckt, spürt er konsequent seiner künstlerischen Ader nach und drückt sie in so einfachen wie komplexen Arbeiten aus. Die aus der Punk-Avantgarde gewachsene Gegenkultur bereitet dann den Weg zur ernsthaften Akzeptanz – jenseits der Sicht seiner Familie, dass er lediglich ein Hobby betreibt.VVolksbühne 1999 findet in der Volksbühne ein von ➝ Frank Behnke organisiertes Konzert von Daniel Johnston und Jad Fair statt. Klaus Beyer kann zu Beginn der Show im ausverkauften Haus, gekleidet in eine Sgt.-Pepper-Uniform, einige Songs beisteuern. Mit Daniel Johnston trifft er in der Garderobe einen Bruder im Geiste. Die beiden tauschen Autogramme aus, und Daniel Johnston zeigt sich angetan von Klaus Beyers Auftritt. Einmal mehr schafft es die Volksbühne, vermeintlich Randständiges in den Mittelpunkt zu rücken und die Aufmerksamkeit eines verwöhnten Publikums auf Ecken und Kanten zu lenken, die sonst übersehen worden wären. Klaus Beyer ist nun Teil von ➝ Schlingensiefs Truppe.ZZimmermann Wie jede künstlerische Arbeit steht Klaus Beyers Schaffen im Spannungsfeld von Aneignung und Kreation. Um schaffen zu können, braucht es Inspiration, und die bekommt ein schöpferischer Geist im Studium und im Kopieren anderer Kunst. So gesehen ist jedes Kunstwerk aus Er- und Gefundenem zusammengezimmert. Bob Dylan hat mit Love and Theft ein Album darüber gemacht und gemeindet damit ganze Text- und Harmonie-Passagen aus dem Fundus verschiedener Traditionen in das eigene Werk ein. Liebe und Diebstahl seien schließlich nur zwei Seiten einer Medaille. Mit Liebe Minus Nichts hat sich Klaus Beyer wiederum über das Werk Dylans gebeugt: „In den Shops und Haltestellen reden sie aus ersten Quellen / Sprechen von der Zukunft / Ich hör mein Girl sanft reden / Es gibt kein’ Erfolg als Scheitern / Und Scheitern ist nun mal kein Erfolg.“
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