Tag der Deutschen Einheit Seit 1989 wird der Osten analysiert und skeptisch beäugt. Neuestes Symptom: Die Ablehnung der Sanktionen gegen Putin als Ergebnis einer immer währenden, scheinbar allumfassende Russophilie. Aber ist es wirklich so einfach?
Was hat die Deutschlandfahne mit Energiekosten zu tun? In Schwerin läuft der Herbst heiß – aber anders, als die Linke sich das wünscht
Foto: Jens Büttner/dpa
Innerhalb von Sekunden stülpt sich über die Kleinstadt Chesters Mill ein Kraftfeld. Unsichtbar, unüberwindbar. Eingesperrt unter der Kuppel prallen das Niederste und das Beste aufeinander – ein Kampf zwischen Gut und Böse in einer von der Außenwelt abgeschotteten Arena. Unbegreifliche Mächte haben die Kuppel über Chesters Mill gelegt, um sich ein Amüsement zu schaffen. Sie schauen durchs gläserne Dach ihres Puppenhauses dabei zu, wie die Leute sich das Leben versauen. So lange, bis ihnen langweilig wird und sie sich aus reinem Überdruss den Bitten der wenigen Überlebenden in diesem hübschen Puppenhorrorhaus nicht länger verschließen. Sie geben Chesters Mill frei. Und wenden sich der nächsten Peepshow zu.
In gew
In gewisser Weise sind seit dem 3. Oktober 1990 in Deutschland 16,43 Millionen Menschen Under the Dome des Horrorbuch-Schriftstellers Stephen King: Immer unter skeptischer Betrachtung, eingehend interpretiert, eifrig einsortiert, klumpig zu einem Einheitsbrei vermantscht und kunstvoll mit Fußnoten versehen, in Gute und Böse fraktioniert, zum besseren Verständnis schematisiert, durch Umfragen erklärt, in Studien seziert, als besondere Spezies auf Stecknadeln gespießt und vakuumverpackt zur Ansicht ausgestellt. Stets irgendwie in Versalien geschrieben.DIE Ostdeutschen. Immer, immer noch, immer wieder „Kunde von einem verlorenen Land“ (so der Kultursoziologe Wolfgang Engler). Während vielen Ostdeutschen das WIR nach und nach abhanden kam, wurden und werden sie, kaum haben sie sich ein bisschen rausgearbeitet, zurück in den Topf geworfen. Wer da nicht mehr drin sein oder dazugehören möchte, sollte gefälligst nach Drüben gehen. Denn DAS Ostdeutsche klebt wie Pech und stinkt wie Schwefel, es ist einfach nicht abzukriegen.Die „frakturierte Gesellschaft“ unausgeheilter Brüche, wie der Sozialwissenschaftler Steffen Mau es nannte, ist nicht nur verdorben gestorben, sie scheint auf ewig und im darwinschen Sinne evolutionär weiterzugeben, was an ihr so unsympathisch ist. Sehnsucht nach Führung, ein missliches Verhältnis zu Demokratie und Freiheit, tumbe Stammtischmentalität und – nun gerade besonders schlimm – eine nicht enden wollende Russophilie.Signifikante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen in der Bewertung Russlands, Putins und seines Expansionskrieges werden über Umfragen herausgearbeitet. Nach der Annexion der Krim, sagen diese Umfragen, hätten 65 Prozent der Westdeutschen Putin für eine Bedrohung Europas gehalten, jedoch nur 50 Prozent der Ostdeutschen. Ein Drittel der Ostdeutschen hielte Putin zu jener Zeit für einen „effektiven Präsidenten“. In Westdeutschland war es nur ein Fünftel.Wo ist die Nord-Süd-Studie?Wie kommt man auf die Frage, ob Putin ein effektiver Präsident ist? Und was sagt die Bejahung dieser Frage genau darüber aus, ob eine findet, Putin sei ein effektives Arschloch oder ein effektiver Landesvater?Während jene zwei Drittel, die das in Ostdeutschland mit der Annexion der Krim nicht gut fanden, weniger interessant zu sein scheinen, genügt das eine Drittel, um DIE Ostdeutschen ganz woanders zu verorten als DIE Westdeutschen. Es gibt übrigens keine Nord-Süd-Studien. Über die Unterschiede zwischen Stadt und Land und die damit verbundene Frage, wie es sich eigentlich mit der Ausstattung mit Metropolen im Osten und im Westen verhält, wird eher hinweggegangen. Es störte auch fürchterlich das Gesamtbild.Russophilie paart sich mit Amerikaphobie. Das ist die festgestellte Gemengelage, die zur Psychiatrisierung DER Ostdeutschen führt, denn alle Erklärungen laufen auf Diagnosen hinaus. Und die Anamnese beruft sich meist auf eine schlechte Kindheit, sprich DDR-Vergangenheit, und seltener auf die Frage, wie es in den Jahren nach 1989 so gelaufen ist. Und ob es tatsächlich noch seine Berechtigung hat, das an Umfragen schwer interessierte Land stets und ständig in Ost und West zu unterteilen.Jetzt haben wir das alle bekannten Urteile bestätigende Ergebnis, dass man in Ostdeutschland Waffenlieferungen an die Ukraine kritischer sieht als in Westdeutschland. Allein in Sachsen seien mehr als zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger dagegen, dass deutsche Panzer, Haubitzen und anderes schweres Kriegsgerät gen Ukraine geschickt werden. Insgesamt seien es in Ostdeutschland 57 Prozent, die jene 39 Prozent im Westen um Längen toppen. Wenn 57 Prozent nicht wollen, dass Deutschland die Ukraine mit schweren Waffen in ihrem Kampf gegen den Aggressor Russland unterstützt, heißt das – so die offizielle Lesart: 57 Prozent sind für Putin. Und schon köcheln wieder alle in einem Topf. Die Rechten und Reichsdeutschen, die Pazifistischen und Skeptischen, die Nationalen und Deutschlandzuerst, die Kriegsängstlichen und Atomkriegpanischen, die Besserwissenden und die Ratlosen. Alles eine Soße.Die Frage nach der Zustimmung oder Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine könnte als klassische Proxy-Variable gelten. Eine Ersatzgröße, durch deren Messung man sich – wenn auch nur mittelbar – Auskunft darüber erhofft, welche Eigenschaften DIE Ostdeutschen haben. Wichtig sei zu beachten, heißt es mahnend, dass die mittels Proxy-Variablen gewonnenen Messwerte nur mehr eine ungefähre Aussage über die eigentliche Zielgröße ermöglichen. Die Streubreite kann groß sein.Das ist schlimm kompliziert und es einzuberechnen den Aufwand wahrscheinlich nicht wert. Viel schöner ist, sich dem seit mehr als 30 Jahren so unglaublich hilfreichen Gut-Böse-Weltbild (schnelle Erklärungen, immer auf Abruf stehen, und am Ende fühlt man sich selbst unglaublich prima) auch weiterhin anheim zu stellen.Die Frage, ob man für oder gegen Waffenlieferungen ist, beinhaltet zugleich die Aussage, dass sich der imperialistische Aggressor Russland gegenwärtig mittels Völkerrecht und Sanktionen nicht aufhalten lässt. Ob das Menschen möglicherweise so rat- und hilflos zurücklässt, dass sie nicht beantworten können, ob dann militärische Aufrüstung die beste aller zur Verfügung stehenden schlechten Lösungen ist, interessiert eher nicht. Und die Feuilletons dieses Landes machen sich offensichtlich auch keine Sorgen um die 39 Prozent Westdeutscher, die sich laut Umfragen ebenfalls nicht für ein Ja für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine durchringen. Das kann daran liegen, dass man diesen Menschen im Gegensatz zu DEN Ostdeutschen nicht automatisch ob der Antwort unterstellt, Putin gut zu finden. Weil? Die kein schweres, undemokratisches, autoritäres, freiheitsverachtendes Erbe haben, das sie über Generationen weitergeben. Wenn die Welt so verdammt einfach ist, warum haben wir dann so viele Probleme?Missverständnis sei in der deutsch-deutschen Szenerie so manches, schreibt Gunnar Decker in seinem Buch Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR. Und immer gingen diese Missverständnisse „auf Kosten des Ostens, der unter Beweispflicht steht. Warum, so fragen sich bis heute viele im Osten, sollen wir uns in unseren Lebenswidersprüchen, unseren kleinen Verrätereien und noch kleineren Heldentaten ausgerechnet vor jenen rechtfertigen, die sich nie für uns interessiert haben, die auch jetzt nur den Makel an uns suchen, um uns im Konkurrenzkampf um Macht und Einfluss ins Abseits zu schieben?“Auf diese im Gegensatz zu anderen wirklich kluge Frage könnte die Antwort vielleicht lauten, dass man es zwar mit der ewigen Rechtfertigung lassen könnte, aber nicht um den Preis, sich über sich selbst im Klaren zu sein oder zu werden. Einen Streit mit offenem Ausgang über verschiedene legitime Lesarten nennt Decker das. Verschiedene legitime Lesarten für DIE Ostdeutschen? Das wäre schrecklich dialektisch.Aber man muss Kings Under The Dome auch gar nicht als Parabel lesen. Es ist auch so ein gutes Buch.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.