Politik

Historiker Neitzel bei Lanz "Nach dem russischen Einmarsch merken wir: Wir sind blank"

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Sönke Neitzel fordert ein Umdenken in der Verteidigungspolitik.

Sönke Neitzel fordert ein Umdenken in der Verteidigungspolitik.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Militärhistoriker Sönke Neitzel sieht die von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte Zeitenwende in der Militärpolitik in Gefahr. In der Talkshow von Markus Lanz fordert der Wissenschaftler eine europäische Militärstrategie und eine Erneuerung der Bundeswehr.

Angesichts der aktuellen und der noch zu erwartenden Krisen auf der Welt fordert der Militärhistoriker Sönke Neitzel ein Umdenken in der Verteidigungspolitik. "Es fehlt völlig an einer europäischen Gesamtstrategie", kritisierte der Wissenschaftler am Dienstagabend in der ZDF-Talkshow "Markus Lanz". "Dabei reden wir seit Jahren darüber, dass die Europäer im Bereich der Rüstung enger zusammenarbeiten müssen." So müssten sich die europäischen Länder die Frage stellen, ob es eine gemeinsame militärische Luftrüstungsindustrie geben soll. Europa schaffe es nicht, in diesem Bereich ein gemeinsames Unternehmen wie Airbus aufzubauen. "Es gelingt nicht, sich in Europa darauf zu einigen", so Neitzel.

Neitzel, der an der Universität Potsdam lehrt und der einzige Professor für Militärgeschichte in Deutschland ist, sieht noch ein weiteres Problem: Deutschland sei der einzige Staat in Europa, in dem man postnational denke. In allen anderen europäischen Ländern herrscht laut Neitzel nationales Denken vor. Dennoch sei eine Initiative für eine gesamteuropäische Verteidigungspolitik wichtig, auch wenn sie letztlich scheitern könne.

"Brauchen hier Gestalten, die Krise können"

Gleichzeitig forderte Neitzel ein Umdenken in der deutschen Verteidigungspolitik. Man habe den Gedanken der Bündnisverteidigung im Jahr 2001 aufgegeben. Seitdem sei die Bundeswehr im Inneren für polizeiähnliche Einsätze zuständig gewesen. "Man hat das Verteidigungsministerium als ein ziviles Ministerium gefahren. Das militärische Argument brauchte man nicht mehr, man meinte ja, nie wieder kämpfen zu müssen. Deswegen hatte man zum Beispiel keine Munition mehr", erklärte Neitzel.

Nun habe sich die Situation geändert. "Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine merken wir: Wir sind blank." Nötig sei, das gesamte System auf Schnelligkeit umzustellen. Das bedeute: Schnell Munition und Rüstungsgüter bauen. "Aber dazu ist die Verwaltung nicht da, das ganze Mindset fehlt", so Neitzel. Dennoch müsse man jetzt schnell vorankommen. Erst in zwanzig Jahren verteidigungsfähig zu sein, das reiche nicht aus. "Wir brauchen eine kriegsfähige Bundeswehr", so Neitzel.

Die Generalität habe die Zeichen der Zeit erkannt, glaubt er. "Aber ich glaube, dass wir gerade dabei sind, diese Zeitenwende sicherheitspolitisch mit Karacho gegen die Wand zu fahren, weil der Staat sich wieder mal selbst im Weg steht." So dauerten die Planungsverfahren zu lange, überhaupt gebe es nicht einmal so etwas wie ein Notfallkomitee.

Schließlich müssten laut Neitzel auch die Strukturen der Bundeswehr überarbeitet werden, die zum Teil noch aus dem Kalten Krieg stammten. "Wir müssen hier neu über Effizienz nachdenken", sagte der Wissenschaftler. "Das kann nur der Bundeskanzler, das kann nur das Kabinett. Und wir brauchen hier Gestalten, die Krise können. Und da haben wir ein Problem."

Dass die Vorschläge Neitzels schwer umzusetzen sein werden, weiß er selbst. "In solchen Zeiten kann man jämmerlich scheitern", sagte er, "Aber man kann als Bundeskanzler auch zeigen: besondere Zeiten, besondere Menschen."

Quelle: ntv.de

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