Kommentar

Die Brasilianer haben mit Lula das geringere Übel gewählt – nicht nur für ihr Land, sondern auch für die Welt

Der Linkspolitiker Lula da Silva hat Präsident Bolsonaro in der Stichwahl knapp geschlagen. Seine vorerst wichtigste Aufgabe ist nun, die internen Spannungen im stark polarisierten Brasilien zu reduzieren.

Werner J. Marti 46 Kommentare
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Mit erhobener Faust grüsst Lula in São Paulo seine Anhänger, nachdem sein Wahlsieg bekanntgeworden ist.

Mit erhobener Faust grüsst Lula in São Paulo seine Anhänger, nachdem sein Wahlsieg bekanntgeworden ist.

Amanda Perobelli / Reuters

Um es gleich vorwegzunehmen: Es gab in dieser Wahl keinen idealen Kandidaten. Doch am Sonntag hat eine knappe 51-Prozent-Mehrheit der Wähler den früheren Gewerkschafter und zweimaligen Präsidenten zumindest als das geringere Übel betrachtet.

In Lulas frühere Regierungszeit fiel der grösste Korruptionsskandal des Landes. Lula ist wie Bolsonaro eine Figur, welche die brasilianische Gesellschaft spaltet. Beide Politiker besitzen kein überzeugendes Wirtschaftsprogramm. Zudem fehlt Bolsonaro und Lula eine Vision, wie durch eine umfassende Reform die geringe Produktivität der Wirtschaft verbessert und damit das Einkommen der Brasilianer erhöht werden könnte. Lula hat auch immer wieder Sympathien gezeigt für die menschenverachtende Linksdiktatur im Nachbarland Venezuela, die sieben Millionen Landsleute ins Exil getrieben hat.

Unterstützung für die demokratischen Institutionen

Trotzdem ist der gewählte neue Präsident unter den gegebenen Umständen die bessere Lösung nicht nur für Brasilien, sondern für die ganze Welt. Lula verspricht im Gegensatz zu Bolsonaro wieder volle Unterstützung für die demokratischen Institutionen des Landes. Bolsonaro stellte mit seinen Angriffen auf das oberste Gericht und seinem Lob für die frühere Militärdiktatur zunehmend eine Gefahr dar für die institutionelle Stabilität des Landes, besonders angesichts der grossen internen Spannungen in der stark polarisierten Gesellschaft.

Mit Lula dürfte auch die aussenpolitische Isolation Brasiliens ein Ende nehmen. Der abtretende Bolsonaro, dessen Fähigkeiten auf dem aussenpolitischen Parkett wenig überzeugen konnten, stiess insbesondere Präsident Biden und die Europäer mit seinem Abbau des Schutzes für den Amazonasregenwald und mit seiner antidemokratischen Rhetorik vor den Kopf. Lula dürfte versuchen, die einst guten Beziehungen zu Europa wiederaufleben zu lassen.

Lula wird vermutlich einer echten Reduktion der grossen Ungleichheit innerhalb der brasilianischen Gesellschaft wieder vermehrt Aufmerksamkeit schenken. Was die Verteilung des Reichtums anbelangt, gehört das Land weltweit zu den Ländern mit der grössten Ungleichheit. Während Lulas früherer acht Regierungsjahre konnten rund 30 Millionen Brasilianer unter anderem dank günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus der Armut in die untere Mittelschicht aufsteigen. Der Linkspolitiker förderte dies nicht nur durch Sozialprogramme, sondern auch durch eine Bildungspolitik, die den ärmeren Schichten vermehrt Zugang zu einer höheren Ausbildung bot. Dies ist von Bedeutung für die Stabilität und die Entwicklung des Landes.

Anhänger von Lula sind auf die Avenida Paulista geströmt, die wichtigste Strasse von São Paulo, um den Wahlsieg ihres Idols zu feiern.

Anhänger von Lula sind auf die Avenida Paulista geströmt, die wichtigste Strasse von São Paulo, um den Wahlsieg ihres Idols zu feiern.

Matias Delacroix / AP

Mehr Schutz für den Amazonasurwald

Im Interesse der ganzen Welt ist zudem zu erwarten, dass der Schutz des Amazonasurwalds unter Lula wieder mehr Beachtung erhalten wird. Dies ist von grosser Bedeutung für den Kampf gegen den Klimawandel. Lula ist zwar kein waschechter Grüner, doch zwei Gründe geben Anlass zu Optimismus. Erstens ist die Leistungsbilanz von Lula in seinen ersten acht Präsidentschaftsjahren beachtlich. Er hat damals die Abholzung massiv reduzieren können, bevor sie in den letzten Jahren wieder deutlich angestiegen ist. Zweitens will er die Beziehungen zu Europa und zu den Amerikanern wieder stark verbessern. Der ungenügende Schutz des Amazonasurwalds ist dabei eines der wichtigsten Hindernisse. Dieses Problem muss er angehen, wenn er aussenpolitisch erfolgreich sein will.

Von einer radikalen, wirtschaftsfeindlichen Linkspolitik wird Lula hingegen vom Kongress abgehalten werden. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass der deutliche Wahlsieg der Partei Bolsonaros bei der Kongresswahl Anfang Oktober Lula vielleicht letztlich den Weg in die Präsidentschaft geebnet hat. Damit kann Lulas Regierung keine extremen Lösungen mehr durchsetzen. Dies hat wohl einigen gemässigten Wählern die Angst vor einer Präsidentschaft des Linkspolitikers genommen.

Die vordringlichste Aufgabe für Lula ist nun, die starke Polarisierung in der brasilianischen Gesellschaft zu reduzieren. Dies dürfte nicht einfach werden, weil der Kulturkampf in Brasilien sehr heftig ausgefochten wird. Doch Lula ist bekannt dafür, dass er auf politischer Ebene als Pragmatiker Kompromisse schliessen kann. Damit bringt der gewählte neue Präsident zumindest eine wichtige Voraussetzung mit ins Amt.

46 Kommentare
MICHAEL SCHUETTE

Dem Kommentar kann ich nur zustimmen. Zwar hat Lula versucht, das von seinem Vordenker Zé Dirceu ausgedachte System der Perpetuierung des Einflusses seiner Partei zu errichten und dies mit abgezweigten Geldern von Petrobras und anderen zu finanzieren. Für diese Korruption wurde er verurteilt, aber die Urteile wurden wegen Verfahrensfehlern annulliert. Danach war alles verjährt. Anders als Bolsonaro ging es ihm aber nicht um persönliche Vorteile.  Künftig wird Parlament, Gouverneure und Bundesanwaltschaft mit Argusaugen verfolgen, was passiert. Das wird Missbrauch eingrenzen. Hinsichtlich der Ökologie und der Armutsbekämpfung stimme ich dem Artikel zu.  Für Brasilien ist das das kleinere Übel. Mit Bolsonaro hätte das Risiko bestanden, dass Brasilien wieder in eine Militärdiktatur abrutscht. 

Lukas Theiler

Erfreulich in der Abwahl des rechtsextremen Bolsonaro, (fälschlicherweise oft als Rechtpopulismus verharmlost) ist die vorläufige Korrektur der weltweiten Tendenz zur Wahl faschistoider Regime.