Der andere Blick

Der Kompromiss ist kein Wert an sich: Warum der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien nicht überzeugt

Durch das Koalitionspapier von SPD, Grünen und FDP zieht sich ein unschönes Muster: Statt Lösungen für Deutschlands grösste Probleme finden sich hier Vereinbarungen, die kaum zum Ziel führen, aber das Bündnis stabil halten dürften.

Jonas Hermann, Berlin 179 Kommentare
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Der mutmassliche nächste Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).

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Jonas Hermann, geschäftsführender Redaktor der NZZ Deutschland

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Es war die Stunde des Eigenlobs: SPD, Grüne und FDP konnten am Mittwoch gar nicht oft genug wiederholen, wie stimmig ihr Koalitionsvertrag sei. Ziemlich flott und ohne Drama haben die drei Parteien ein gemeinsames Regierungsprogramm geformt, das teilweise wirklich Lob verdient: So soll zum Beispiel die sogenannte Schuldenbremse eingehalten werden, das Pflegepersonal eine Bonuszahlung von insgesamt einer Milliarde Euro erhalten und Cannabis unter strengen Vorgaben legalisiert werden.

«Mehr Fortschritt wagen», lautet die Überschrift des Vertrags, in dem mehr als zweihundert Mal das Wort «stärken» vorkommt. Dass Deutschland einen stärkeren Klimaschutz, stabile Finanzen oder eine solide Migrationspolitik braucht, würde kaum jemand bestreiten. Nicht nur bei diesen drei Themen fragt man sich aber, ob das mit den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag funktionieren kann.

Schräge Bekenntnisse

Sozialdemokraten, Grüne und FDP wollen die erneuerbaren Energien laut dem Vertrag drastisch ausbauen. Wie Sonnen- und Windkraft an dunklen, windarmen Wintertagen eine Industrienation mit Strom versorgen sollen, kann aber bis heute niemand schlüssig erklären. Das hindert SPD, Grüne und FDP freilich nicht, die erneuerbaren Energien als Heilsbringer im Kampf gegen die Erderwärmung zu glorifizieren. Dabei wetterte die FDP zum Beispiel in Rheinland-Pfalz noch vor wenigen Jahren gegen Windräder.

Ähnlich schräg mutet das Bekenntnis an, weder das Eintrittsalter bei der Rente noch deren Niveau anzutasten. Weil die Gesellschaft zunehmend altert, wird dies langfristig nur mit sehr ungesunden Verrenkungen zu finanzieren sein. Das weiss auch der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz. Der künftige Chef der Koalition ist aber ein kühler Stratege, der natürlich genauso weiss, dass Rentner eine bedeutende Wählergruppe sind, weshalb er schon im Wahlkampf dieses riskante Versprechen abgab.

In der Einwanderungspolitik verspricht der Koalitionsvertrag einen Neuanfang. Die irreguläre Massenmigration soll endlich reduziert werden. Um das zu erreichen, müsste Deutschland sein opulentes Sozialsystem für Asylbewerber unattraktiv machen, da es magnetische Kräfte entfaltet. Erwartungsgemäss steht davon nichts im Vertrag. Stattdessen sollen illegale Einwanderer nach drei Jahren im Land bleiben dürfen, falls sie sich integriert haben. Das gefällt den Grünen, Ausschaffungen dürften somit aber noch schwieriger und seltener werden.

Abschiebungen bald noch schwieriger

So zieht es sich durch: Die Koalitionäre erkennen die drängenden Probleme im Land, auf dem Weg zur Lösung verlaufen sie sich aber immer wieder im Unterholz. Das mag an weltanschaulichen Differenzen liegen oder auch am fehlenden Mut, die richtig dicken Bretter zu bohren. Davor hat sich schon die scheidende Kanzlerin Angela Merkel 16 Jahre lang gedrückt. Machterhalt hiess ihre stille Devise, der sich alles andere unterordnete. Sollten es SPD, Grüne und FDP ähnlich halten, wäre das stets wiederholte Mantra von Aufbruch und Fortschritt nur Gerede.

Aber vielleicht geht es auch eine Nummer kleiner: Der Grünen-Chef Robert Habeck sagte am Mittwoch einen wichtigen Satz: Er versprach «ein Deutschland, das schlichtweg funktioniert». Gerade in der Pandemie hat nicht viel geklappt, daher werden SPD, Grüne und FDP schon genug zu tun haben, um nur diesen Anspruch zu erfüllen. Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Partner läuft erstaunlich geräuscharm. Die Harmonie scheint jedoch mit Kompromissen erkauft zu sein, die eher dem Bündnis zugutekommen als dem Land.

179 Kommentare
Peter Wendt

Was haben die Koalitionäre eigentlich wochenlang getrieben? Am Ende ging es dann wohl doch um Posten.  Ein ausgebrannter, vorbelasteter Bundeskanzler, eine völlig ungeeignete Außenministerin, ein Finanzminister von der FDP wow, einzig Herr Habeck hat mit seinem Superministerium einen klugen Schachzug vollbracht. Er kann nun im Wirtschaftsministerium evtl. Vorbehalte neutralisieren und seinen Grünen Kurs zurRettung des Weltklimas antreten, eine Art Super Kanzler auf Abruf.  Dazu ein riesiges ziemlich schwaches Parlament angeführt von einem Hühnerhaufen aus Bundestagspräsidentinnen (die neue Frauenquote?)  Die meisten Abgeordneten haben zudem schlicht nicht die notwendige Qualifikation. Und wieder sind viel zu viele Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes im Parlament.  Definitive Verlierer dieser Politspiele sind die Bürger. Auf diese kommen höhere Steuern zu, viele neue Gesetze und Reglementierungen, d.h. die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der Bürger wird weiter abnehmen.  Eine funktionsfähige Opposition ist nicht in Sicht. Wie lange wird das halten? Zwei Jahre? 

Roland Dr. Mock

Das einzig Schadensbegrenzende, was ich dieser Koalition abgewinnen kann, ist, daß das Finanzministerium nicht von rot nach grün gewandert ist. Ansonsten: Deutschland bleibt eine linke Republik. Aber das war ja vorhersehbar.