Der andere Blick

Die Torheit der Tyrannen – warum Putin verliert, auch wenn er den Krieg gewinnt

Demokratien haben etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt: ihre Freiheit. Despoten wie Putin machen immer denselben Fehler und unterschätzen die Widerstandskraft offener Gesellschaften. Russland zahlt dafür einen hohen Preis.

Eric Gujer 391 Kommentare
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75 Jahre nach dem Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hält Russland im Juni 2020 in Moskau die grösste Militärparade seiner Geschichte ab.

75 Jahre nach dem Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hält Russland im Juni 2020 in Moskau die grösste Militärparade seiner Geschichte ab.

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Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung».

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Wladimir Putin, der kein Spieler ist und erst recht kein Hasardeur, hat sich verzockt. Die Ukrainer verteidigen sich mit verzweifeltem Mut. Jeder Tag, den sie durchhalten, ist ein Sieg für sie. Jeder Tag, den der Krieg andauert, bedeutet eine Niederlage für den russischen Gewaltherrscher. Von vorneherein war klar, dass alles andere als ein Blitzsieg ein Gesichtsverlust für Moskau sein würde. Inzwischen wird seit mehr als einer Woche gekämpft, und das Ende ist nicht absehbar. Wie konnte das geschehen, muss sich Putin fragen.

Dabei steckt der Kreml seit mehr als einem Jahrzehnt jeden Rohstoff-Dollar, den er zusammenkratzen kann, in die Modernisierung seiner Armee. 2008 führte Moskau Krieg gegen das unterlegene Georgien. Die russischen Streitkräfte behielten in fünftägigen Kämpfen zwar die Oberhand, offenbarten aber grosse Schwächen. Das sollte sich nie mehr wiederholen – genauso wenig wie Strassenkämpfe in den Ruinen des ausgebombten Grosny. Nun wiederholt es sich doch in Charkiw und in Kiew. Warum kann das passieren?

Der Kreml wird nie verstehen, warum die Ukrainer Opfer bringen

Auch der Westen leistet auf seine Weise Widerstand. Er kämpft nicht mit Waffen, aber er rüstet auf. Sogar die ewig zaudernden, sich hinter ihrer Vergangenheit versteckenden Deutschen statten die Bundeswehr zusätzlich mit 100 Milliarden Euro aus. Die Nato stationiert weitere Truppen in Osteuropa, und die EU liefert Waffen.

Obendrein wird Russland von seinen im Westen angelegten Währungsreserven abgeschnitten, ausgewählte Banken verlieren den Zugang zum internationalen Zahlungsverkehr. Mit anderen Worten: Die USA, Japan und die Europäer haben einen Finanzkrieg begonnen. Wer hätte damit gerechnet?

Rekord-Strafen gegen Russland

Zahl der Sanktionen westlicher Länder gegen Unternehmen, Personen und Institutionen in Russland, Summe pro Monat
1
Annexion der Krim durch Russland im März 2014
2
Anerkennung der ukrainischen Provinzen Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten und Beginn des Angriffskrieges (seit dem 22. Februar 2022)

Putin hat weder den Durchhaltewillen der Ukrainer vorhergesehen noch die westliche Einheitsfront. Er glaubte, leichtes Spiel zu haben mit der Ukraine. Die Gesellschaften des Westens hält er ohnehin für verweichlicht. Sie nehmen den Mund arg voll, reden von Menschenrechten und roten Linien. Wenn diese aber verletzt werden, unternehmen sie nichts. So geschehen in Syrien, als Präsident Obama den Giftgaseinsatz des Regimes ungeahndet liess. Jetzt aber verteidigt der Westen entschlossen eine rote Linie.

Wie ist das alles möglich? Wenn der Schattenmann im Kreml nicht jeden Bezug zur Realität verloren hat, muss er sich diese Frage immer wieder stellen. Die Antwort allerdings wird er nicht verstehen: Menschen verteidigen ihre Freiheit. Sie sind bereit, dafür Opfer zu bringen.

Für die Ukrainer bedeutet Passivität die Unterwerfung unter ein russisches Joch. Das wollen sie nicht tragen, deswegen setzen sie ihr Leben aufs Spiel. Auch der Westen muss für seinen Finanzkrieg einen Preis zahlen, aber er weiss, dass Untätigkeit in Zukunft hohe Kosten nach sich zieht. Europa und Amerika würden erpressbar. Die Drohung mit Atomwaffen zeigt, dass Putin keine Grenzen mehr kennt – ausser man setzt ihm welche.

Die Freiheit ist eine mächtige Triebfeder. Deswegen sind demokratische und offene Gesellschaften selbst dann stark, wenn sie übermächtigen Despoten gegenüberstehen. Sie haben etwas, wofür zu kämpfen sich lohnt. Manchmal mit Waffen, zum Glück aber meistens nur mit Worten und ziviler Entschlossenheit. Vor allem begreifen die Menschen den Wert der Freiheit instinktiv, auch ohne Propaganda und staatliche Bevormundung. Das macht sie so gefährlich für autoritäre Regime.

Putin kann die Idee der Freiheit nicht erfassen, für ihn haben nationale Grösse und imperiale Macht ein ungleich höheres Gewicht. Der Westen hat die Bedeutung der Freiheit verdrängt – nicht aus Geringschätzung, sondern weil sie der Triumph der liberalen Weltordnung zur Selbstverständlichkeit machte. Es war ihr Übermass, das sie nicht mehr sonderlich begehrenswert erscheinen liess. Durch Moskaus Dreistigkeit wird sie wieder zu einem knappen Gut in Europa, daher ist ihr Wert in der letzten Woche so steil gestiegen.

Freund gegen Feind – diese Logik wirkt

Nicht von ungefähr muss ein Volk im Osten mit einer leidvollen Geschichte die anderen Europäer erst wieder lehren, was Freiheit heisst. Vielleicht versteht Brüssel jetzt besser, warum Ungarn und Polen voller Selbstbehauptungswillen sind. Der Osten hat noch nicht zur Ruhe gefunden, hier entladen sich historische Urgewalten. Wer überleben will, muss sich zu wehren wissen.

Der Kalte Krieg kehrt nicht wieder, dafür ist Russland zu schwach. Es kann seine Macht nicht wie die Sowjetunion auf allen Kontinenten zur Geltung bringen, es ist technologisch und wirtschaftlich mit wenigen Ausnahmen schwach. Es hat keine Ideologie, die Anhänger in Scharen anzieht wie der Kommunismus. Im Gegenteil: Putins extremer Nationalismus lässt die meisten Russen kalt und stösst die wenigen Verbündeten ab.

Die Logik des Kalten Krieges kommt aber sehr wohl zurück. Sein scharfer Antagonismus ersteht wieder auf: Freiheit gegen Unfreiheit, internationale Regeln gegen nackte Aggression, Freund gegen Feind. Die Logik ist primitiv, aber wirksam.

Das werden auch diejenigen merken, die sich wie die AfD und die SVP scheuen, klar Stellung zu beziehen. Das Argument der Neutralität ist vorgeschoben, denn bereits 2014 verhielt sich die Schweiz im Rahmen ihres OSZE-Vorsitzes in dem Konflikt nicht neutral. Dass sich diese Parteien in der Pandemie als letztes Bollwerk der Freiheit inszenierten, entlarvt sich nun umso deutlicher als Charade. Freiheit besitzt für sie offenkundig keinen Wert an sich. Sie ist nur so weit von Bedeutung, als sie sich für ihre Propaganda instrumentalisieren lässt.

In den letzten dreissig Jahren nahmen materielle Güter den obersten Rang ein: die Gewinne und Erfolgsgeschichten des Silicon Valley etwa. Unternehmer wie Elon Musk waren Helden. Der grösste Materialist, Donald Trump, verhöhnte US-Soldaten als Versager, die zu dumm seien, viel Geld zu verdienen.

Die Rangfolge relativiert sich in der mit dem russischen Überfall geborenen Ära. Immaterielle Werte wie Demokratie und Selbstbestimmung gewinnen neue Dringlichkeit. Das gilt selbst dann, wenn die Panzer schliesslich jeden Widerstand platt walzen; es gilt sogar gerade dann. Eine zerstörte und unterdrückte Ukraine bleibt eine schwärende Wunde, die umso schmerzhafter spüren lässt, was unter den Trümmern begraben wurde.

Moskau obsiegte 1953 in Ostberlin, 1956 in Budapest, 1968 in Prag und 1981 in Warschau – und verlor am Ende doch alles. Nichts illustriert Putins Hybris besser, als dass er die Geschichte der Sowjetunion ignoriert, an deren zweifelhaften Glanz er anzuknüpfen hofft.

Die Blindheit gegenüber allem, was ihrem Herrschaftsanspruch zuwiderläuft, macht seit je die Torheit der Tyrannen aus. Wir hingegen sehen umso schärfer, dass sich Putins Staat in einem zentralen Punkt nicht von der Sowjetunion unterscheidet. Der gemeinsame Wesenskern ist der aus dem Zarenreich rührende Imperialismus.

Stalin fragte, wie viele Divisionen hat der Papst?

Aber die Zeit, als Monarchen ganz selbstverständlich Land raubten, ist vorbei. Die Aura überlegener Macht, die Putins präpotente Bewunderer in SVP und AfD so fasziniert, genügt heute nicht mehr. Die Europäer haben zwar nach dem Mauerfall die Bedeutung der Machtpolitik sträflich unterschätzt. Aber Machtausübung ohne alle Prinzipien ist hohl und anachronistisch, das war schon im Kalten Krieg so. Selbst der Papst hat Divisionen, wie Stalin und seine Nachfolger herausfinden mussten. Auch Putin wird es merken.

Der russische Präsident hat sich verkalkuliert. In welchem Ausmass, wird er begreifen, sobald er die geopolitischen Folgen bedenkt. Da sich der Westen von Russland abwendet und in den nächsten Jahren auch die Importe von russischem Gas und Öl reduzieren wird, muss sich Moskau ganz auf Peking ausrichten. Ihre Beziehung war schon bis anhin keine Partnerschaft unter Gleichen, nun wird die russische Abhängigkeit umso grösser.

Putin wollte Russland zur starken Grossmacht machen und erreicht nun das Gegenteil. Entweder er akzeptiert die chinesische Führungsrolle, oder er steht ziemlich allein. Rosige Zeiten für Peking, sollte man meinen. Doch auch China könnte eine Überraschung erleben. Die Europäer wachen gerade auf. Sie werden vorsichtiger gegenüber Diktaturen und deren Ambitionen; sie werden sich fragen, was Chinas neue Seidenstrasse von Moskaus Hegemoniestreben unterscheidet. Nur der Verzicht auf Gewalt? Das Beispiel Ukraine lehrt, dass sich niemand gutgläubig auf Vernunft und Mässigung autoritärer Regime verlassen sollte.

391 Kommentare
D. L.

Es wirkt fast peinlich, wenn man einige Kommentare zu Gujers Artikel liest. Die Nachkriegsgeneration des Westens hat bis heute nicht verstanden, was der Begriff "Freiheit" wirklich bedeudet. Im freiheitlichen Wohlstand verwahrlost, ist wohl das richtige Wort dafür. Putin hat alle, aber auch wirklich alle roten Linien überschritten. Im Stil Hitlers wird ein friedliches Nachbarland zerbombt, Unsinn aufgetischt und das eigene Volk verdummt. Putin will angebliche Nazis eliminieren mit den Mitteln des Faschismus, der in einem größenwahnsinnigen Anfall sogar mit Atomwaffen droht. Nicht nur die Antwort des Westens, sondern die Antwort der ganzen Welt muß diesem Staatsterrorismus Einhalt gebieten.

Michael Warkus

Was Sie in diesem Artikel beschreiben Herr Gujer ist eine idealisierte Sicht auf die Freiheit bzw deren Neuentdeckung in den westlichen Demokratien. Schön wäre es! Was wir momentan in Europa und besonders in Deutschland verteidigen ist unsere Bequemlichkeit - nicht unsere Freiheit, die steht nämlich noch gar nicht zur Disposition. Wie glauben Sie würde sich eine deutsche Bevölkerung an Stelle der ukrainischen Verhalten? Die Peinlichkeit dieser Vorstellung erspare ich mir und anderen. Wie können Sie glauben, dass eine Bevölkerung für eine imaginäre Freiheit kämpfen würde deren großer Teil Angst davor hat auf unserem Planeten zu verbrennen wegen des Klimawandels oder sich mit Corona zu infizieren. Nein - wir versuchen uns Sicherheit zu erkaufen, indem wir Waffen und viele wohlfeile Worte nach der Ukraine schicken. Letztendlich hoffen wir, dass Ukrainer durchhalten, damit wir weiterhin in Frieden leben können. Das Umschwenken von Pazifismus zur Waffenlieferungen hat nichts mit Freiheitswillen zu tun sondern mit Angst um unser Wohlstandsleben. Putin ist doch nicht der Böse weil er friedliche Nachbarn überfallen hat sondern weil er uns aus unseren globalen Friedensträumereien gerissen hat. Wir in Deutschland sollten froh sein, dass wir noch - hauptsächlich im Osten - von Ländern umgeben sind, die wissen was Unfreiheit bedeutet.

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