Der andere Blick

Der Westen braucht eine neue Russland-Strategie: Was er im Umgang mit Moskau falsch macht

Will Putin wirklich einen Krieg gegen die Ukraine anzetteln? Der Westen ist alarmiert. Dabei trägt er selbst Mitschuld an der Lage. Gleichgültig schaute er der wachsenden Verbitterung Moskaus über die Machtverteilung in Europa zu. Jetzt kontert der Kreml mit dem Einzigen, was er hat: seiner Armee.

Eric Gujer 269 Kommentare 6 min
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Ein russischer Soldat während einer Militärübung in der russischen Region Rostow.

Ein russischer Soldat während einer Militärübung in der russischen Region Rostow.

Sergey Pivovarov / Sputnik via Imago
Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung»

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Jahrelang richteten sich die Blicke der Strategen vor allem auf Asien. Jedes Inselchen im Südchinesischen Meer erfuhr grösstmögliche Aufmerksamkeit. Die gefährliche Bruchzone, die sich quer durch Europa vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer zieht, blieb weitgehend unbeachtet. Das hat Wladimir Putin mit der Truppenkonzentration an der ukrainischen Grenze gründlich geändert. Man muss ihm dafür beinahe dankbar sein.

Die USA wie die Europäer gaben sich der Illusion hin, der scheinbare Stillstand im Osten erfordere keine unbequemen Entscheidungen. Dabei sind im unruhigen Randgebiet der ehemaligen Sowjetunion alle Auseinandersetzungen nur vorläufig eingefrorene Konflikte. Tauen sie auf, knallt es. Moskau hat dann keine Skrupel, einen Krieg anzuzetteln. Das war 2008 in Georgien so und 2014 in der Ukraine.

Prorussische Separatistengebiete
Krim (von Russland annektiert)

Die jetzige Machtdemonstration Russlands hat die Illusion des Stillstandes platzen lassen. Wie immer, wenn eine westliche Selbsttäuschung an der Realität zerschellt, ist die Aufregung gross; und wie immer pflegt man dann die Gegenseite, in diesem Fall Putin, für die missliche Lage verantwortlich zu machen. Dabei begingen Amerika und die Europäer fünf kapitale Fehler.

Ein Staat, mit dem man wieder rechnen muss

Erstens: Der Westen ignorierte eine zentrale Lehre der europäischen Geschichte, wonach die beste Voraussetzung für Stabilität ein Gleichgewicht der Mächte ist, das von den Beteiligten als fair erachtet wird. Nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich jedoch ein Ungleichgewicht ausgebildet.

Das russische Imperium wurde mit dem Untergang der Sowjetunion weit nach Osten zurückgedrängt. Die osteuropäischen Staaten des Warschauer Paktes und die früheren Sowjetrepubliken im Baltikum traten der Nato und der EU bei. Die Ukraine wandte sich ebenfalls dem Westen zu.

Aus russischer Warte ist das kein Gleichgewicht und fair erst recht nicht. Seit dem Kollaps der Sowjetunion war klar, dass ein erstarktes Russland auf eine Revision hinarbeiten würde. Inzwischen ist es so weit. Das Land ist wieder ein Faktor, mit dem man rechnen muss.

Der Kreml wird nicht ruhen, sein strategisches Vorfeld an der Bruchlinie von Ost und West zu vergrössern. Nur selten hat eine europäische Grossmacht einen als ungerecht empfundenen Zustand hingenommen. Auch Deutschland akzeptierte den Versailler Vertrag nicht.

Nato und EU taten gut daran, das Selbstbestimmungsrecht der Osteuropäer zu respektieren und sie mit offenen Armen zu empfangen. Das Ungleichgewicht hätte Anlass sein müssen, den Dialog zu suchen und so den Konflikt zu entschärfen. Die vermeintlichen Sieger der Geschichte liessen die Dinge indes schleifen. Moskau wird nicht aufgeben. Wenn die gegenwärtige Krise verebbt, wird es die nächste Gelegenheit zur Konfrontation suchen. Beide Seiten spielen russisches Roulette.

Zweitens: Die USA fokussieren sich ganz auf China, auf seine Wirtschaftsmacht und wachsende militärische Stärke. Moskau hat wirtschaftlich dasselbe Gewicht wie Italien und kann nur mit seinen modernisierten Streitkräften auftrumpfen. Es war daher eine Frage der Zeit, bis Putin Militär einsetzen würde, um sich in einer westlichen Schwächephase Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die USA laborieren am innenpolitischen Schisma und dem Debakel in Afghanistan. Grossbritannien ringt mit dem Brexit. Frankreich macht Wahlkampf. Die neue deutsche Regierung weiss noch nicht, was sie will. Eine günstige Gelegenheit also für Putin, zu testen, wie weit er gehen kann.

Amerika kann sich nicht nur auf Asien konzentrieren

Drittens: Washington liess das einst kunstvoll errichtete Gebäude der Rüstungskontrolle in Europa einstürzen. Die USA kündigten zwei Verträge, die ein Verbot von Mittelstreckenwaffen und die Überwachung der Truppenstärken aus der Luft vorsahen. Dies geschah zwar als Reaktion auf russische Verletzungen der Abkommen. Gleichzeitig hinterliess dies aber den Eindruck, als würde Amerika Russland nur noch als zweitklassige Macht betrachten, auf die man keine Rücksicht nehmen müsse.

Dabei kann Russland, wie es gerade beweist, erhebliche Unruhe stiften. Die USA müssen sich dann Europa zuwenden. Solange sie der Nato angehören, sind sie eine europäische Macht. Das Unvermögen der Europäer, für die eigene Sicherheit und die Stabilität des Kontinents zu sorgen, bleibt damit uramerikanisches Business.

Viertens: In den neunziger Jahren versank Russland im Chaos. Es war der zweite Zusammenbruch des Imperiums in einem Jahrhundert – und für viele Beteiligte, unter ihnen Putin, genauso einschneidend wie das Ende des Zarenreichs. Der Westen gewöhnte sich damals eine Mischung aus Idealismus und Paternalismus an. So bot Deutschland Russland eine «Modernisierungspartnerschaft» an. Dabei übersah man völlig, dass die russische Elite ihr System nie modernisieren wollte, sondern an den kleptokratischen und autoritären Strukturen festhielt. Der Underdog sah sich als Grossmacht im Wartestand und reagierte mit wachsender Verbitterung auf jedes Anzeichen von Herablassung.

Der Westen liess jedoch nie von der Idee ab, dass er seine Werte bis zum Ural exportieren kann. Wenn man sein Gegenüber nicht verbessern will, sondern es nimmt, wie es ist, eliminiert man Spannungen. Mehr Nüchternheit hilft auch, die nicht verhandelbaren Prinzipien zu definieren, für die man notfalls einen Krieg führt.

Fünftens: Vor allem die Europäer haben völlig unterschätzt, welch schlagkräftiger politischer Hebel das Militär in den Händen eines Mannes ist, der sich längst als Wladimir der Grosse sieht. Zwar können die russischen Streitkräfte den Nato-Armeen zahlenmässig nicht Paroli bieten, aber sie besitzen zwei Vorteile. Sie vermögen überall zwischen Baltikum und Schwarzem Meer Spannungen zu schüren oder gar zuzuschlagen. Ferner setzt Putin seine Ressourcen bedenkenlos ein, wenn er sich davon einen Vorteil verspricht.

Einige Nato-Mitglieder, allen voran Deutschland, tun sich mit militärischem Druck hingegen schwer. Bereits der Gedanke an eine Waffenlieferung für die Ukraine bereitet ihnen heftige Bauchschmerzen. In einem Konflikt geben oft nicht die stärkeren Bataillone den Ausschlag, sondern der überlegene Wille. Daran mangelt es Putin nicht.

Das Ziel von Putin ist glasklar

Aber auch ausgeprägter Wille ist nicht alles. Putin wird kaum einen Krieg und die Besetzung grösserer ukrainischer Gebiete riskieren, obwohl das Land kein gleichwertiger Gegner ist. Opfer und Kosten wären hoch. Vor allem würde sich die Ukraine von einem Asset, mit dem der Kreml die Welt auf Trab hält, in einen Mühlstein verwandeln. Afghanistan lässt grüssen. Dennoch braucht der Westen eine neue Russland-Strategie.

Im Kalten Krieg gehörten Abschreckung und Dialog zusammen. Verhandlungen ohne Verteidigungsfähigkeit bedeuten Schwäche, Abschreckung ohne Dialog ist Abenteurertum. Spät besinnt sich die Nato auf diese Erkenntnis. In Genf, Brüssel und Wien fanden gerade Gespräche mit Moskau statt. Dass ihnen russisches Säbelrasseln vorausging, lässt sie als Konzession an den Kreml erscheinen. Dennoch wäre es sinnvoll, endlich eine Initiative zur Rüstungskontrolle in Europa zu starten.

Zu einer neuen Russland-Strategie gehören erreichbare Ziele. Seit dem Ende des Kalten Kriegs schien es die vornehmste Aufgabe, Russland zu Demokratie und Marktwirtschaft zu erziehen. Das lässt sich von aussen nicht erzwingen, nur die Russen selbst können das schaffen. Für den Westen muss vielmehr die eigene Sicherheit an oberster Stelle stehen.

Das Mantra lautet, man dürfe Russland keine Interessensphäre in den ehemaligen Sowjetrepubliken zugestehen. In Weissrussland, im Kaukasus und in Kasachstan geschieht aber genau das. Da die Ukraine offenbar anders ist, fragt man sich, warum die Nato sie nicht wie die Balten aufnimmt. Die Angst, Russland zu provozieren, bedeutet die implizite Anerkennung einer Einflusszone.

In diesem Schwebezustand muss der Westen alles unternehmen, um seine Position in Kiew auf friedliche Weise zu stärken. Deutschland dürfte nicht überstürzt aus Atomkraft und Kohle aussteigen, womit es seine Abhängigkeit von sibirischem Gas und russischem Wohlwollen erhöht. Frankreich dürfte nicht immer wieder mit Angeboten an Moskau eigenmächtig vorpreschen.

Wenn Europa nicht einmal nationale Egoismen, Energiepolitik und Sicherheitsfragen abstimmen kann, sollte es das russische Mitspracherecht und eine Neutralität der Ukraine zwischen den Machtblöcken akzeptieren. Das wäre eine realpolitische Frontbegradigung, allerdings auch ein zweites Jalta, ähnlich der Aufteilung Europas durch die Sieger des Zweiten Weltkriegs.

In Jalta erkannten Roosevelt und Churchill die Realitäten und den Machtbereich Stalins an. Ihre Nachfolger werden ebenfalls Farbe bekennen müssen. Die Ungewissheit, welche Linie der Westen in der Ukraine verfolgt, nutzt nur Moskau und seiner revisionistischen Politik: Zurück in die Zukunft – das Ziel von Putin wenigstens ist glasklar.

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Martin Vogel

Putin hat klare Ziele. Der Westen ist neben eher schwärmerischen Inhalten wie einer Rettung des Weltklimas, korrekten Sprachregelungen, Gender- und Identitätspoltik vor allem mit der eigenen Überheblichkeit und Empörungsbereitschaft beschäftigt.

Dan Mihailescu

Das ‘faire Gleichgewicht’ lässt sich mit einer machthungrigen, imperialistischen Diktatur nicht erreichen. Ausserdem können von dieser Diktatur befreite Staaten, die nunmehr als ‘Verhandlungsmasse’ von eben dieser Diktatur angesehen werden, eben nicht mehr in deren Einflussbereich fallen wollen. Wenn der Westen frei bleiben will, muss er Osteuropa helfen, frei zu bleiben.