Interview

Sommaruga zur Energiewende: «Niemand will einen Kahlschlag beim Naturschutz»

Weiter wie bisher gehe nicht, sagt Energieministerin Simonetta Sommaruga. Mit beschleunigten Verfahren will sie die Blockade beim Ausbau von Wind- und Wasserkraft lösen. Um einen Stromengpass zu verhindern, brauche es Gaskraftwerke.

David Vonplon, Christof Forster, Bern 162 Kommentare
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«Die Bevölkerung hat 2017 dem Atomausstieg zugestimmt. Daran halte ich fest», sagt die SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga.

«Die Bevölkerung hat 2017 dem Atomausstieg zugestimmt. Daran halte ich fest», sagt die SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga.

Simon Tanner / NZZ

Frau Sommaruga, der Bundesrat hat am Donnerstag weitere Erleichterungen für den Bau von Solaranlagen beschlossen. Wollen Sie das ganze Land – Häuser, Autobahnen, Parkplätze und Landschaften – mit Solarpanels zupflastern?

Nein, mir geht es um die Versorgungssicherheit. Diese treibe ich voran mit dem Ausbau der Speicherwasserkraft. Die Förderung der erneuerbaren Energien trägt auch dazu bei. Der Bundesrat hat deshalb einen Bürokratieabbau für die Photovoltaik beschlossen. Auch sollen Anlagen bei Neubauten von den Steuern abgezogen werden können. Noch wichtiger allerdings ist, dass wir die Verfahren für grosse Wasserkraft- und Windanlagen beschleunigen. Nur so lassen sich Neubauprojekte rechtzeitig realisieren. Das ist ein Befreiungsschlag für die Branche.

Heisst das, für Sie steht die Solaroffensive nicht im Mittelpunkt?

Der Solarstrom ist wichtig. Aber die Wasserkraft bleibt das Rückgrat der Stromversorgung in unserem Land. Vor allem im Winter, wenn der Strom knapp ist, sorgen die Speicherseen für die nötige Sicherheit. Darum hat der Bundesrat auch einen Zuschlag für Winterstrom beschlossen. Gleichzeitig haben wir am runden Tisch 15 grosse Wasserkraftprojekte identifiziert, die nötig sind, um künftig Engpässe im Winter zu vermeiden. Hinter dieser Lösung stehen die Strombranche, die Kantone und fast alle massgeblichen Umweltorganisationen.

Sie wollten eine Pflicht für die Installation von Solaranlagen auf Neubauten einführen. Doch davon war am Donnerstag nun plötzlich nicht mehr die Rede. Ist sie nun vom Tisch?

Die Forderung nach einer Solarpflicht für Neubauten stammt aus dem Nationalrat. Sie wurde von sämtlichen Parteien fast einstimmig unterstützt. Deshalb stellt sie der Bundesrat nun in der Vernehmlassung zur Debatte. Wenn die Parteien an dieser Forderung festhalten, werden wir die Massnahme im Bundesrat noch einmal prüfen.

Was bringt die Straffung der Verfahren konkret?

Heute dauert es oft 20 Jahre, bis ein Wind- oder Wasserkraftprojekt realisiert werden kann. Es gibt verschiedene Bewilligungsverfahren, und die Projektgegner können jedes Verfahren einzeln ans Bundesgericht ziehen. Das verzögert den Bau neuer Kraftwerke enorm. Diese Verfahren werden nun gebündelt, so dass es nur noch ein Beschwerdeverfahren gibt. So können wir vorwärtsmachen und unsere Ausbauziele erreichen.

Branchenvertreter äussern Zweifel, ob der Befreiungsschlag gelingt. Sie befürchten, dass die Richter trotz schnelleren Verfahren am Schluss doch zugunsten der Umwelt und gegen den Ausbau von erneuerbaren Energien entscheiden.

Ich bin zuversichtlich. Wenn der Bund festlegt, dass gewisse Projekte für die Versorgungssicherheit dieses Landes von Bedeutung sind, wird das auf die Rechtsprechung einen Einfluss haben. Die Richter haben bei planerischen Entscheiden immer einen Ermessensspielraum. Sie werden aber berücksichtigen, dass es sich um Projekte handelt, die im nationalen Interesse liegen.

Wäre es nicht sinnvoller, den Kraftwerkausbau gegenüber dem Umweltschutz im Gesetz zu priorisieren – zumindest für eine gewisse Zeitspanne?

Ich bin skeptisch, ob die Bevölkerung das akzeptieren würde. Erwartet wird, dass grosse Wasser- und Windkraftprojekte dort realisiert werden, wo es möglich ist. Niemand will einen Kahlschlag beim Naturschutz.

Geht der Zubau der Wasser- und Windkraftwerke nicht zwangsläufig auf Kosten der Umwelt?

Nein. Vielleicht gibt es Einschränkungen an einem Ort. Dafür können an einem anderen Ort Ausgleichsmassnahmen getroffen werden. Dazu braucht es allerdings kluge und frühzeitige Verhandlungen zwischen der Strombranche und den Umweltverbänden. Und die Bereitschaft aller Beteiligten, auch einmal von der Maximalforderung abzuweichen.

Mit den üblichen parlamentarischen Fristen wird es mindestens drei Jahre dauern, bis die Beschleunigungsvorlage in Kraft treten kann. Kommt sie damit nicht schon zu spät?

Ich will die Vorlage noch in diesem Jahr ins Parlament bringen. Sobald die Reform verabschiedet ist, kann der Bund zusammen mit den Kantonen ein Konzept erstellen. Danach können die Kantone die nötigen Anpassungen an den Richtplanverfahren anpacken. Allen ist klar, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Das können wir uns schlicht nicht leisten.

Gemäss der Stromaufsichtsbehörde Elcom drohen Mangellagen schon ab 2025.

Um über genug Winterstrom zu verfügen, will ich vorzeitig eine Winterreserve bei den Speicherkraftwerken einführen. Wir kaufen dazu von den Betreibern eine gewisse Wassermenge, die dann den ganzen Winter durch im Stausee gespeichert werden muss, bis sie gebraucht wird. Da der Bundesrat diese Massnahme auf dem Verordnungsweg einführen kann, kann sie bereits im nächsten Winter greifen. Als zweite Rückversicherung braucht es zudem Gaskraftwerke. Sie sollen aber nur im Notfall eingesetzt werden.

Ist es realistisch, dass bis 2025 bereits ein Gaskombikraftwerk steht?

Schaffen wir auch hier auf dem Verordnungsweg die rechtliche Grundlage, könnte ein Bau rasch in die Wege geleitet werden. Aber das muss erst abgeklärt werden.

Wie ist die Schweiz eigentlich in diese ungemütliche Lage geraten: Hat sie zu lange vor allem auf Importe gesetzt?

Ja. In den letzten zehn Jahren hat man in unserem Land tatsächlich vor allem auf Importe gesetzt. Schweizer Firmen haben vor allem im Ausland investiert. Solche Investitionen tragen jedoch nicht zur Versorgungssicherheit in der Schweiz bei. Inzwischen ist allen bewusst, dass wir in der Schweiz zubauen müssen. Wir werden aber immer Strom importieren.

Sie kritisieren, dass Axpo, Alpiq und BKW sich aus ihrer Verantwortung stehlen. Machen Sie es sich damit nicht zu einfach? Die Firmen investieren dort, wo es für sie am profitabelsten ist.

Das ist nicht primär der Fehler der Stromkonzerne. Die Rahmenbedingungen waren nicht ideal: lange Verfahren, Rekurse, unsichere Förderbeiträge. Es fehlte damit auch die nötige Investitionssicherheit. Eine meiner ersten Vorlagen nach dem Wechsel ins Uvek war deshalb die Verlängerung der Förderung für die Erneuerbaren. Als ich die Vorlage lanciert habe, gab es viel Widerstand. Jetzt ist sie bereits durchs Parlament.

Dann liegt es vor allem an Ihrer Vorgängerin, die sich zu stark auf Importe abstützte?

Damals gab es eine andere Sichtweise. Man ging davon aus, dass mit Importen die Versorgung gewährleistet sei.

Der Bund rechnet 2035 mit Importen von 15 Terawattstunden im Winter. Die Stromaufsicht Elcom sagt, damit mache sich die Schweiz zu stark abhängig vom Ausland. Wo sehen Sie die Grenze?

Das Wichtigste ist, dass es jetzt einfach vorwärtsgeht. Ich erwarte von allen politischen Kräften, denen die Versorgungssicherheit ein Anliegen ist, dass sie Hand bieten zur Umsetzung der vorliegenden und weitgehend unbestrittenen Massnahmen. Der Importbedarf hängt zudem davon ab, wie lange die AKW laufen. In der Schweiz gibt es nicht wie in Deutschland einen Abschalttermin.

Was machen Sie, sollte nach Mühleberg in den nächsten Jahren ein weiteres AKW unerwartet vom Netz gehen? Die prekäre Situation im Winter würde sich massiv zuspitzen.

Für die Sicherheit der Kernkraftwerke ist die Atomaufsicht Ensi zuständig. Das beurteilt nicht die Politik. Unsere Aufgabe ist, attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen, damit in der Schweiz in die Versorgungssicherheit investiert wird.

Das Ensi könnte aus Sicherheitsgründen Nachrüstungen für die Schweizer Werke verlangen. Unter Umständen kommt es dann für die Betreiber günstiger, das Werk stillzulegen. Wären Sie in einem solchen Fall offen dafür, dass der Staat die Nachrüstungen bezahlt, um die Versorgung sicherzustellen?

Das ist so nicht vorgesehen. Es ist sinnvoller, Geld in den Ausbau der Erneuerbaren zu investieren. Je schneller dieser erfolgt, desto grösser sind die Unabhängigkeit vom Ausland und die Sicherheit der Schweizer Stromversorgung.

Nach der SVP bringt jetzt auch die FDP den Neubau von Kernkraftwerken wieder aufs Tapet. Wäre dies nicht auch ein Beitrag zur Versorgungssicherheit?

Kein einziger Schweizer Stromkonzern hat den Neubau eines AKW in seiner Strategie vorgesehen. Die Branche sagt mir, dass ein solcher zu teuer wäre und viel zu lange dauern würde. Im nordfranzösischen Flamanville wird seit 2007 an einem neuen Werk gebaut, die Kosten wurden massiv überschritten. Ausserdem hat die Bevölkerung 2017 dem Atomausstieg zugestimmt. Daran halte ich fest.

Die SVP wirft Ihnen vor, Sie würden Pflästerlipolitik betreiben. Die Partei plant einen eigenen runden Tisch zur Versorgungssicherheit. Werden Sie teilnehmen?

Ich bin laufend in Kontakt mit der Branche und den Parteien, der Austausch ist damit sichergestellt. Die Strompolitik des Bundesrats wird sehr breit unterstützt – von der Branche, aber auch von den meisten Parteien. Die Förderung der Erneuerbaren ist bereit, die Mittel für den Winterstrom sind weitgehend unbestritten, und auf die Verfahrensbeschleunigung warten viele. Rund um diese Kernpunkte gibt es Scharmützel, die dazugehören, uns aber nicht weiterbringen.

Die Debatte um die Versorgungssicherheit hat die vom Bundesrat angestrebte Liberalisierung des Strommarktes in den Hintergrund gedrängt. Hat die Vorlage noch eine Chance?

Es deutet einiges darauf hin, dass eine Mehrheit im Parlament die Öffnung zurückstellen will.

Wir haben nicht den Eindruck, dass Sie die Marktöffnung durch alle Böden verteidigen.

Die Marktöffnung ist Voraussetzung für ein Stromabkommen mit der EU. Doch ein solches Abkommen wird nicht rasch kommen, auch wenn es unser Ziel bleibt. Erfreulich ist, dass wir gemeinsam mit den Nachbarstaaten eine Absichtserklärung abschliessen konnten, um in Krisensituationen zusammenzuarbeiten. Trotzdem werden wir den Zubau in der Schweiz vorantreiben.

Ein Übergangsabkommen mit der EU könnte die Versorgungsproblematik beim Strom entschärfen. Führt der Bundesrat Gespräche in diese Richtung?

Wir machen das, was kurzfristig möglich ist. Aber die Schweiz wird nach dem Abbruch der Verhandlungen mit der EU nicht sofort mit einem Stromabkommen bedient. Das wusste der Bundesrat, auch wenn wir ein solches Abkommen weiterhin anstreben. Das würde die Zusammenarbeit mit der EU sicher erleichtern. Die Stromproduktion im eigenen Land ausbauen müssten wir allerdings auch mit einem Abkommen.

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Rudolf Lamprecht

Im tiefen Winter bei flacher Druckverteilung werden die Gaskraftwerke auch noch in 100 Jahren in Betrieb sein und nach zig-Gigatonnen CO2 Austoss werden wir uns sagen “weshalb nur habe wir keine neuen AKWs gebaut?” Oder wir beziehen den Strom klammheimlich aus Frankreich (und die Sozis und Gruenen schweigen dazu). Es bleibt aber die Hoffnung auf die Fusion.

Werner Moser

Je mehr es die Natur zu schützen gilt, desto mehr braucht es AKWs u/o Gaskraftwerke. Denn drohende Stromengpässe vermeidet man nur mit mehr Bandenergie (Wasser/Atom/Gas). Mit der Produktion von Flatterenegie (Wind/Sonne) können Engpässe zwar vermindert, aber nicht verhindert werden. Gilt auch betreffend Kahlschlag beim Naturschutz. Das weiss "man" seit Fukushima / Neue Eidgenössische Energiestrategie. Dass jetzt sogar eine BRin öffentlich feststellt, dass es neue Gaskraftwerke braucht, ist beides: gut und schlecht zugleich. Schlecht, dass es bis ins Jahr 2022 gebraucht hat, um dies öffentlich festzustellen. Und gut, dass es überhaupt soweit gekommen ist. Auch wenn die Schweiz - ohne Not! - auf die Stromengpass-Drohung hätte verzichten können. Für die Schweiz, als Wasserschloss, peinlich und ärgerlich dazu!