Die Bergkantone wollen die Energieanlagen in die eigenen Hände nehmen – und bringen so den Ausbau der Wasserkraft in Gefahr

In den nächsten Jahrzehnten übernehmen die Bergkantone von den Stromkonzernen die Wasserkraftwerke. Das hat gravierende Folgen: Weil die Sicherheiten fehlen, sehen Versorger wie Axpo und EWZ davon ab, in neue Anlagen zu investieren.

David Vonplon
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Die Talsperre des Speichersees Mattmark soll erhöht werden, doch bisher verlaufen die Planungsarbeiten schleppend.

Die Talsperre des Speichersees Mattmark soll erhöht werden, doch bisher verlaufen die Planungsarbeiten schleppend.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Es war einer der bisher grössten Erfolge der Energieministerin Simonetta Sommaruga. Ende 2021 verständigten sich Kantone, Wasserwirtschaft und Umweltverbände auf 15 Projekte zum Ausbau der Wasserkraft. Die Einigung war das Resultat eines runden Tischs, den die SP-Bundesrätin selber initiiert hat. Sie sollte die jahrelange Blockade beim Bau neuer Wasserkraftanlagen beenden – und die drohende Stromlücke im Winter entscheidend verkleinern.

«Der runde Tisch ist für mich Politik, wie ich es mir vorstelle: Man setzt sich zusammen, diskutiert, und dann müssen sich alle bewegen», sagte Sommaruga kürzlich gegenüber den Zeitungen von CH-Media. Das erwarte sie nun von allen – von den Kantonen, den Umweltverbänden und der Wasserwirtschaft.

Doch bewegen wollen sich nicht alle – besonders die Kantone nicht. Die Regierungen der Kantone Wallis und Graubünden, auf deren Gebieten 10 der 15 aufgelisteten Wasserkraftprojekte realisiert werden sollen, wehren sich erbittert gegen die Pläne Sommarugas, den Bau dieser Stauseen mit schlankeren Verfahren zu beschleunigen. Noch viel gravierendere Folgen für den geplanten Ausbau dürften allerdings die Pläne der Gebirgskantone haben, die Wasserkraftwerke nach dem sogenannten Heimfall in die eigenen Hände zu nehmen.

Weshalb? Die Stromversorger halten für den Betrieb ihrer Kraftwerke eine Konzession des Standortkantons oder der Standortgemeinde. Sie gibt ihnen das Recht, das Wasser für einen Zeitraum von vierzig bis achtzig Jahren zu nutzen. In den nächsten dreissig Jahren nun läuft ein Grossteil dieser Konzessionen aus. Doch statt diese zu erneuern, wollen die Kantone den Heimfall ausüben. Sämtliche Staumauern, Stollen und Turbinen fallen damit an den Konzessionsgeber zurück, sprich die Gemeinden und Kantone. Die Aussicht, dass ihre Kraftwerke bald verstaatlicht werden, hemmt die Betreiber, in den Ausbau der Stromerzeugung zusätzlich zu investieren.

EWZ reduziert Investitionen auf das Nötigste

«Die Ausübung des Heimfalls wird den Ausbau der Wasserkraft um Jahre verzögern, solange das weitere Vorgehen nicht verbindlich festgelegt ist», sagt Harry Graf, Mediensprecher des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich (EWZ). Das Unternehmen plant, den Staudamm des Marmorerasees zu erhöhen. Zwischen 150 und 200 Millionen Franken betragen die Investitionskosten für das Projekt, das auf der Liste des runden Tisches steht und 55 Gigawattstunden zusätzlichen Winterstrom produzieren würde.

Doch ob das Ausbauprojekt realisiert werden kann, nachdem das Bündner Parlament im Februar die neue Wasserkraftstrategie verabschiedet hat, ist höchst ungewiss. Beim Staudamm Marmorera und dem zugehörigen Kraftwerk in Tinizong läuft die Konzession im Jahr 2035 aus. Die Anlagen gehen dann an den Kanton und die örtlichen Gemeinden über. Gespräche darüber, wie hoch die Entschädigungen für den Restwert sind, die dem EWZ bei einem Heimfall ausbezahlt werden sollen, fanden bisher noch keine statt.

«Wir sind grundsätzlich an einem Ausbau interessiert, möchten diesen vorantreiben und Investitionen tätigen. Doch fehlen uns dazu heute leider die notwendigen Sicherheiten», sagt Graf. Bei einem möglichen Heimfall werde man deshalb die Investitionen auf das Notwendigste beschränken müssen, auch wenn sich das EWZ auch in Zukunft als verlässlicher Partner der Bündner Wasserkraft sehe.

Der Bündner Energiedirektor Mario Cavigelli sieht derweil das Problem nicht. Er sagt: «Die Gebirgskantone sind enorm darum bemüht, ihren Beitrag zur Energiewende zu leisten.» Die am runden Tisch identifizierten Ausbauprojekte müssten nun durch die Kraftwerksbetreiber vorangetrieben werden. Gemäss seinem Wissensstand geschehe dies auch. So seien die Betreibergesellschaften daran, die Projekte zu vertiefen. Ebenso sei vorgesehen, dass die Ausbauvorhaben in den kantonalen Richtplan aufgenommen würden.

Genauso wie Graubünden will auch der Kanton Wallis künftig die Wasserkraft kontrollieren und mindestens 60 Prozent der heimfallenden Gesellschaften übernehmen. Und aus diesem Grund droht der Ausbau der Wasserkraft auch dort ins Stocken zu geraten, noch bevor er richtig Fahrt aufgenommen hat.

Planungsarbeiten für neue Speicherseen stehen still

Oberhalb von Saas Fee etwa möchte die Axpo die Talsperre des Speichersees Mattmark erhöhen. Das Bauvorhaben sei eines der energiewirtschaftlich vielversprechenden Projekte des runden Tisches und vergleichsweise rasch zu realisieren, sagt Peter Lustenberger, Experte für Hydroenergie bei der Axpo. Bereits 2030 könnte die Vergrösserung des Sees abgeschlossen sein, wenn Behörden, Energieunternehmen und Umweltverbände am gleichen Strick ziehen.

Doch wurden die Planungsarbeiten nicht begonnen, weil unter anderem unklar ist, wie die Betreiber die Investitionen tragen können, wenn die Anlage bei Konzessionsende im Jahr 2045 in den Besitz des Kantons Wallis übergeht. Was die Investitionsbereitschaft hemmt: Gemäss geltendem Gesetz gilt, dass beim Heimfall bloss die trockenen Anlageteile durch den neuen Besitzer, also den Kanton, abgegolten werden müssen. Die «nassen» Teile, also Staumauer, Druckleitungen und Turbinen, jedoch können die Kantone und Gemeinden gemäss Wasserrechtsgesetz grundsätzlich kostenlos übernehmen. Darunter fällt auch die Erhöhung des Damms.

Es sei unter diesen Voraussetzungen chancenlos, den Damm zu erhöhen, wenn das Bauwerk innerhalb der kurzen Zeit bis 2045 abgeschrieben werden müsste, sagt Lustenberger. Schlicht zu gross wären die Kosten, die mit dem absehbaren Verlust der Konzessionen verbunden seien. Zumal solche Investitionsentscheide über einen Horizont von mehreren Jahrzehnten geschehen.

Mit den gleichen Problemen schlägt sich auch der Stromkonzern Alpiq herum. Er ist im Wallis an vier Neu- und Ausbauprojekten mit einem Investitionsvolumen von insgesamt über 500 Millionen Franken beteiligt: Am Oberaletsch und am Gornergletscher sollen neue Talsperren errichtet und am Lac d’Emosson sowie dem Moirysee die bestehenden Staumauern erhöht werden. Werden sie realisiert, wäre das Ausbauziel von Bundesrätin Sommaruga für die Wasserkraft bereits zur Hälfte erreicht.

Doch auch hier stockt die Planung. Michael Wider, Leiter Switzerland bei Alpiq, sagt auf Anfrage: «Wir würden uns wünschen, dass der Kanton bei diesen Projekten des runden Tisches die Bereitschaft zeigt, nun vorwärtszugehen», sagt er. Stattdessen sei zu befürchten, dass es zu weiteren Verzögerungen komme.

Kantone spielen auf Zeit

Die Hinhaltetaktik des Gebirgskantons hat, so die Vermutung der Kraftwerksbetreiber, ebenfalls mit deren Heimfall-Strategie zu tun. Denn werden die Ausbauprojekte – wie vom Bund erwünscht – jetzt realisiert, stehen schwierige Diskussionen über die Restwerte der Kraftwerke an. Beim Stauseeprojekt am Gornergletscher etwa sind die Aktionäre von Grande Dixence nur dann bereit, die erforderlichen 300 Millionen zu investieren, wenn ihnen der Kanton eine genügend grosse Heimfall-Entschädigung zuspricht, um die Investitionen bis zum Auslaufen der Konzession 2045 zu amortisieren. Verlaufen die Verhandlungen über den Restwert im Sand, kann der Kanton hoffen, die Ausbauprojekte zu einem späteren Zeitpunkt in Eigenregie zu realisieren.

Der Walliser Energiedirektor Roberto Schmidt stellt solcherart Vermutungen in Abrede. Er sagt: «Das Auslaufen der Konzessionen spielt im Prozess der Projektauswahl überhaupt keine Rolle.» Vielmehr habe sich der Kanton dafür entschieden, alle Aus- und Neubauprojekte im Wallis anhand einer «Multikriterienanalyse» zu bewerten. Auf deren Grundlage sollen die vielversprechendsten Projekte dann in den kantonalen Richtplan aufgenommen werden. Dieses Vorgehen sei angezeigt, da es sehr wahrscheinlich sei, dass diese neuen Projekte trotz dem Konsens des runden Tisches angefochten würden und am Schluss die Gerichte entscheiden müssten.

Die Kraftwerksbetreiber überzeugt diese Argumentation nicht. Mit diesem Vorgehen gehe unnötig wertvolle Zeit verloren, sagen sie. Auch bringe die Walliser Regierung den brüchigen Konsens des runden Tisches mit den Umweltverbänden in Gefahr, wenn sie nun plötzlich eine eigene Liste an Neubauprojekten verfolge. «Schert der Kanton Wallis aus dem Kompromiss des runden Tisches aus, werden sich die Umweltverbände nicht länger an ihre Zugeständnisse halten», sagt Wider.

Kommt es so weit, dürfte die gemeinsame Erklärung, welche die verfahrene Situation bei der Wasserkraft beenden sollte, zur Makulatur werden. Und die Ausbauziele, die sich der Bund gesetzt hat, in weite Ferne rücken.

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