«Jemand sollte dich zerstückeln» – Annalena Baerbock wehrt sich juristisch über die Landesgrenze gegen einen Hetzer aus Zürich

Der Fall steht exemplarisch für eine Entwicklung. Drohungen gegen Magistratspersonen nehmen zu.

Claudia Rey
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Der Beschuldigte wirft der deutschen Aussenministerin Baerbock in einer Mail Kriegshetze vor.

Der Beschuldigte wirft der deutschen Aussenministerin Baerbock in einer Mail Kriegshetze vor.

Christian Spicker / Imago

Es war ein einziger Satz, den ein Zürcher an die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock gerichtet hatte. Nun hat dieser für ihn teure Konsequenzen.

Der Mann muss eine Geldstrafe über 1800 Franken plus 2000 Franken Entscheidgebühren bezahlen. Das hat das Bezirksgericht Zürich am Freitag entschieden.

Der Vorfall ereignet sich am 22. Oktober 2021. Um 12 Uhr 57 drückt der 39-jährige Schweizer in seiner Wohnung in Zürich auf die Sende-Taste. Sekunden später landet die Mail im Posteingang von Annalena Baerbock in Berlin. Der Schweizer schreibt: «Jemand sollte dich zerstückeln», und beendet den Satz, indem er sie als Prostituierte bezeichnet. Seine Identität versucht der Mann zu verschleiern.

In der Mail nennt er sich «Papierlischwizer». Baerbock meldet den Fall der deutschen Staatsanwaltschaft. Diese findet rasch heraus, dass der Absender in Zürich sitzt, und gibt den Fall an die Stadtpolizei Zürich weiter. Sie findet heraus: Der Absender ist ein schweizerisch-russischer Doppelbürger, der sich als Philosoph bezeichnet. Der Beschuldigte ist mehrfach vorbestraft. Wegen psychischer Probleme ist er in ambulanter Behandlung. Bald soll er deshalb eine IV-Rente erhalten.

Im Sommer wird er per Strafbefehl wegen Beschimpfung bestraft. Der Beschuldigte ficht den Strafbefehl an, und so kommt es am Freitagmorgen im Bezirksgericht Zürich zur Verhandlung.

Der 39-Jährige erscheint ohne Verteidiger, aber mit einem Stapel Papieren vor Gericht. Es sind ausgedruckte Zeitungsartikel und eine fein säuberlich notierte Begründung. Denn dass er die Mail an Baerbock geschrieben hat, streitet er gar nicht ab, vielmehr sagt er: «Meine Feststellung ist keine Beschimpfung, sondern eine Tatsache.» Wort für Wort seziert er die eigene Aussage und versucht jedes Wort historisch zu begründen. Dabei schreckt er auch nicht davor zurück, Baerbock mit den Nationalsozialisten zu vergleichen.

Der Beschuldigte sieht sich als Kämpfer gegen Rechtsextreme. Er sagt: «Ich bin sensibilisiert auf Nazis. Hätte man Hitler rechtzeitig umgebracht, wäre es nicht zu dieser Katastrophe gekommen.» Dann fügt er an, Baerbocks Politik beruhe auf Kriegshetze. Er meint damit Hetze gegen den russischen Staat und Präsident Wladimir Putin.

«Sie nennt das Land, aus dem ich komme, System Putin. Sie hat ein ganzes Volk beleidigt», sagt er. Bisweilen werden seine Argumentationen wirr. Er redet von grüner Energie aus Atomkraft, beschuldigt Baerbock, eine CIA-Agentin zu sein, und behauptet, seine kognitiven Fähigkeiten lägen weit über dem Durchschnitt. Den Richter überzeugen die Argumente nicht. Er verurteilt den Mann wie bereits die Vorinstanz wegen Beschimpfung.

Nach dem Urteil eilt der Mann aus dem Saal und ruft: «Ihr seid ein Halunkenstaat.»

Pandemie hat Bedrohungssituation verändert

Der Fall Baerbock steht exemplarisch für eine Entwicklung: Seit Beginn der Corona-Pandemie haben Beschimpfungen und Bedrohungen gegen Politikerinnen und Politiker ein neues Level erreicht: Im vergangenen Jahr sind der Schweizer Bundespolizei (Fedpol) 1215 Drohungen gegen Magistratspersonen gemeldet worden. Das sind fünfmal so viele wie vor der Pandemie.

In Deutschland ist die Entwicklung ähnlich. Holger Münch, der Präsident des deutschen Bundeskriminalamts, sagte vergangenes Jahr in einem Interview mit dem «Spiegel»: «Wir sehen mit Sorge, dass die Zahl der Bedrohungen und Anfeindungen stetig zunimmt. Das betrifft Politiker, aber auch andere Personen wie etwa Virologen, die während der Pandemie in den Medien besonders präsent sind.»

Die Dunkelziffer der Bedrohungen dürfte hoch sein. Das Fedpol vermutet, dass nur ein Teil der geschützten Personen Drohungen systematisch meldet. «Die Bedrohungssituation hat sich in Bezug auf Quantität und Qualität während der Pandemie verändert. Der Schutz von Persönlichkeiten heute ist nicht mehr mit der Zeit vor der Pandemie vergleichbar», heisst es beim Fedpol.

Drohungen gegen Magistratspersonen nehmen seit der Pandemie zu

Anzahl Meldungen an das Fedpol

In Deutschland hat die gemeinnützige Organisation Hate Aid sichtbar gemacht, welchen Massen an Hasskommentaren Spitzenpolitikerinnen wie Baerbock ausgesetzt sind. Hate Aid hat 2021 einen Monat lang ausgewertet, wie häufig die Spitzenkandidaten im Wahlkampf ums Kanzleramt auf Twitter beschimpft wurden. An Baerbock richteten sich 524 Tweets «im Kontext mit potenziell beleidigender und verletzender Sprache». Das entspricht einem Viertel aller Nachrichten an Baerbock in diesem Zeitraum. Bei den männlichen Kanzlerkandidaten waren die Verhältnisse ähnlich.

Hate Aid untersuchte weiter auch die Quellen der Tweets und fand heraus, dass viele der an Baerbock gerichteten Nachrichten aus dem rechten Milieu stammten. Etwa ein Viertel sei dem rechten bis rechtsextremen Spektrum zuzuordnen.

In dieses Raster passt auch ein anderer Fall aus Zürich: Ein in der Schweiz wohnhafter Deutscher wurde im September per Strafbefehl mit einer bedingten Geldstrafe über 9000 Franken und einer unbedingten Busse von 2300 Franken bestraft, weil er zu Gewalt gegen Angela Merkel aufgerufen hatte.

Auch hier wurde in Deutschland Anzeige erstattet und der Fall dann von den deutschen Behörden an die Schweizer Kollegen weitergeleitet. Die Wortwahl offenbart die rechtsextreme Gesinnung des Absenders. Er kommentierte auf der Facebook-Seite von «ZDF heute» unter einem Video mit den Worten «KopfschuSS und gut ist». Im Video informierte die damalige deutsche Bundeskanzlerin über die Inzidenzentwicklung der neuen Corona-Variante. Der Beschuldigte hat den Strafbefehl akzeptiert.

Lea Stahel, Soziologin an der Uni Zürich, sagt: «Hass entsteht häufig im Zusammenhang mit wahrgenommener Machtlosigkeit.» Studien zu den konkreten Beweggründen von aggressiven Kommentaren gegen Politikerinnen und Politiker fehlen jedoch.

Klar sei aber, so Stahel, dass je höher der Status einer Politikerin oder eines Politikers, desto eher sei sie oder er Hasskommentaren und Beschimpfungen ausgesetzt. Das Geschlecht sei dabei häufig zweitrangig. Studien zeigen, dass Politiker etwa genauso häufig beschimpft werden wie Politikerinnen. Das gilt zumindest für Lokalpolitikerinnen. Eine Studie aus Kanada hat ergeben, dass gerade statushohe Frauen wie Baerbock deutlich häufiger angegriffen werden als die männlichen Kollegen.

Unterschiede werden auch beim Inhalt der Beschimpfungen festgestellt: Frauen werden häufig sexistisch beschimpft – so wie Baerbock im eingangs beschriebenen Fall. Bei Männern kommt das seltener vor. Zudem wird Frauen öfter die Kompetenz abgesprochen als Männern.

Wenn Wut und Hass im Internet sich steigern, entsteht ein Umfeld für Kriminalität. Im Jahr 2021 hat die Bundespolizei deshalb in 120 Fällen weitergehende Massnahmen ergriffen. Zum Vergleich: Zwei Jahre davor war dies lediglich in 18 Fällen nötig.

Nicht nur im Netz, auch von Angesicht zu Angesicht scheint die Hemmschwelle für Angriffe auf Politikerinnen und Politiker in der Pandemie gesunken zu sein. Das zeigen zwei Beispiele aus Zürich.

Bundespolizei muss vermehrt einschreiten

Anzahl Drohungen, bei denen das Fedpol weitergehende Massnahmen ergriffen hat

Die SVP-Regierungsrätin Natalie Rickli war bei der Einweihung der kantonalen Impfmobile im August 2021 von einem Mann mit Apfelsaft bespritzt worden. Er wurde der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte schuldig gesprochen und mit einer bedingten Geldstrafe von 6900 Franken bestraft.

Weiterreichende Konsequenzen hatte ein Fall, der die Stadträtin Karin Rykart betraf. Sie sass im Juni 2021 mit den Amtskollegen Daniel Leupi und Andreas Hauri bei einem Mittagessen vor dem Restaurant Haus zum Rüden am Limmatquai. Ein Velofahrer steuerte auf den Tisch zu und bedrohte Rykart. Sie erstatte Anzeige. Im Verfahren stellte sich später heraus, dass der Mann wegen einer Schizophrenie der festen Überzeugung war, die Justiz habe sich gegen ihn verschworen und die Polizei verfolge ihn. Der Täter wurde von den Richtern als schuldunfähig eingestuft, und es wurde eine stationäre Massnahme angeordnet, eine kleine Verwahrung.

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