Der Winter hat in weiten Teilen der Ukraine begonnen. Durch die gezielten russischen Luftangriffe auf die Infrastruktur sind viele Haushalte bei eisigen Temperaturen ohne Heizung und Strom. Die Reparaturarbeiten schreiten voran, doch es drohen weitere schwere Luftangriffe. Aktuelle Satellitenbilder zeigen ungewöhnlich viel Bewegung auf einem wichtigen russischen Militärflughafen bei Saratow.
Sönke Neitzel, Militärhistoriker: »Das ist die eigentliche Herausforderung für die Zivilbevölkerung, weil die Russen sich entschieden haben, den Krieg auf eine neue Stufe zu heben. Vorher haben sie mit ihren Luftangriffen vor allen Dingen versucht, militärisch relevante Logistik und Infrastruktur zu zerstören, z.B. die Eisenbahnlinien und die Waffenlieferungen zu stören. Jetzt attackiert man die Energieversorgung, die Wasserversorgung, die Wärmeversorgung der Zivilbevölkerung, was laut Genfer Konvention verboten ist. Das ist ein ganz klares Kriegsverbrechen, das muss man in der Deutlichkeit sagen. Und das ist eigentlich das erste Mal, dass diese Achillesferse einer Zivilgesellschaft oder eines Staates so entschlossen angegriffen worden ist.«
Nach der Explosion und dem Brand auf der Krim-Brücke am 9. Oktober hatte Wladimir Putin die Energie-Infrastruktur der Ukraine offen zum Ziel erklärt. Kiew wirft Russland »Energieterror« vor - mit dem Ziel, die Menschen in Dunkelheit, Kälte und Angst zu stürzen. Der Winter wird zur Waffe.
Sönke Neitzel, Militärhistoriker: »Die Überlegung von Putin scheint zu sein, die Bevölkerung entweder zur Flucht zu treiben und damit hier in Westeuropa ein großes Flüchtlingsproblem zu verursachen: mangelnde Solidarität, Spaltung Europas. Oder, dass die Zivilbevölkerung Druck auf Selenskyj ausübt, doch klein beizugeben. Und jeder der sieht, wie Cherson aussieht und wer auch die Verbrechen und die Folter sieht, dem ist klar: Einknicken ist keine Alternative. Es gibt vielleicht einige, die dann doch die Städte verlassen, aber ich glaube, dass diese Idee, die es wahrscheinlich gibt, den Willen der Ukrainer zu brechen, dass das nicht erfolgreich sein wird. Und alle historischen Beispiele zeigen, dass man vielleicht einen Fatalismus erzeugt oder gar nur die Entschlossenheit vergrößert.«
Zehntausende Soldaten in der Ukraine kämpfen gerade überwiegend in Schützengräben – wie hier im südlichen Teil des Donbass. Das Wetter verwandelt die Böden in tiefen Schlamm. In der Nacht sinken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Was bedeutet der Winter für die Soldaten und ihre Ausrüstung?
Sönke Neitzel, Militärhistoriker: »Der Krieg findet ja vor allen Dingen nicht in den Städten statt, sondern in der freien Landschaft. Und zehntausende Soldaten müssen in Gräben, in der freien Wildbahn sozusagen Tag und Nacht diesen Krieg führen. Und damit haben wir eine Herausforderung an die Temperatur. Jede Armee, die im Winter kämpft, braucht mehr Material. Sie braucht Winterkleidung. Ihre gesamten Geräte müssen im Winter auch funktionieren. Denken wir daran, dass die ukrainische Armee, auch die russische Armee ja viel hochtechnisierter sind, als das vor 80 Jahren der Fall ist. Also auch Computer zum Beispiel müssen laufen, auch wenn wir jetzt nicht -40 Grad haben, sondern leichte Minusgrade. Also das stellt eine größere Herausforderung an die Logistik. Und in diesem Bereich sind sicherlich die Ukrainer ein Stück im Vorteil, weil nach allem, was es scheint, ich möchte es vorsichtig auszudrücken, scheinen die Ukrainer in diesem Bereich besser organisiert zu sein.«
Dieser Vorteil wird aber nach Einschätzung des Militärhistorikers nicht zu einem schnellen Ende des Konflikts führen.
Sönke Neitzel, Militärhistoriker: »Meines Erachtens ist das Wahrscheinlichste zurzeit, dass es eine lange, lange Konfrontation gibt und dass dann die Kämpfe an der Front auf und ab simmern. Also dass es Phasen der hohen Intensität und Phasen der niedrigeren Intensität gibt und dass in Phasen der niedrigeren Intensität dann auch verhandelt wird über offizielle oder inoffizielle Kanäle. Aber meine Phantasie reicht noch nicht aus, um wirklich zu einer Friedensituation zu kommen. Denn selbst wenn es Waffenstillstandsgespräche gäbe, kann ich mir nicht vorstellen, dass das wirklich dauerhaft hält. Ich kann mir nur vorstellen, dass es mal örtlich an einzelnen Frontabschnitten vielleicht gilt, sondern ich sehe eigentlich Putin in einem dauerhaften Konflikt mit dem Westen. Es ist die Frage auch: Was will Putin damit? Meine Interpretation wäre: Es geht gar nicht um die Ukraine in erster Linie, sondern um die Zerstörung der der euro-atlantischen Weltordnung, die Putin als Bedrohung für sich empfindet. Und die Ukraine ist ein Tool, ein Mittel dazu. Und deswegen geht es auch nicht darum, wer jetzt welche Gebiete im Donbass kontrolliert, sondern es geht eigentlich um mehr. Und von daher glaube ich, dass selbst wenn man jetzt einen Waffenstillstand abschließen würde, ist der Konflikt nicht beendet, sondern dann ist es nur noch eine kurze Atempause. Ich glaube, dass wir uns auf eine lange, lange Konfrontation einstellen müssen mit unterschiedlicher Intensität der Kämpfe.«