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Bulgarien vor der Wahl Der Premier mit den Goldbarren auf dem Nachttisch

Bulgariens Premier Borissow war Karate-Kämpfer und kommunistischer Polizeioffizier. Trotz massiver Korruptionsvorwürfe stehen seine Chancen für die Wiederwahl gut. Das liegt auch an seinen Gegnern.
Will wiedergewählt werden: Bojko Borissow

Will wiedergewählt werden: Bojko Borissow

Foto: POOL / REUTERS

Ljudmil wurde nur 16 Jahre alt. Ein Spaziergang mit seinem Vater auf einem belebten Boulevard von Sofia wurde dem Teenager im Februar zum Verhängnis. Er trat auf die Metallabdeckung eines Schachtes – und brach zusammen. Der Vater bekam beim Versuch, seinem Sohn zu helfen, einen Stromschlag. Ljudmil selbst starb wenig später in einem Krankenhaus.

Schnell kam heraus, dass ein falsch verlegtes und nicht genehmigtes elektrisches Kabel die Metallumrandung des Schachtes unter Strom gesetzt und so den Tod des Teenagers verursacht hatte. Das Kabel führte zu illegal aufgestellten Kiosken, die bestochenen Beamten aber wohl bekannt waren, wie bulgarische Medien berichten.

Der Fall sorgte für große öffentliche Empörung, machte Schlagzeilen in den Zeitungen und führte zu einer heftigen Parlamentsdebatte. Am Pranger: Der korrupte Staat und seine Bediensteten.

»Diese Wahl ist eine Abstimmung über das Herrschaftsmodell von Borissow«

Denn: Der Fall von Ljudmil ist einer der jüngsten in einer Reihe von ungezählten Korruptionsfällen, die seit gut einem Jahrzehnt das Herrschaftssystem des bulgarischen Regierungschefs Bojko Borissow prägen. Der bullige »Bruder Bojko«, Karate-Kämpfer, ehemaliger kommunistischer Polizeioffizier und inzwischen nominell Christdemokrat, hat jedoch bislang alle Affären politisch überlebt.

Dabei könnte es bleiben: An diesem Sonntag findet in Bulgarien die Parlamentswahl statt. Borissows Partei »Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens« (GERB) gilt laut den meisten Umfragen als Favoritin – und das mitten in einer durch gesundheitspolitisches Missmanagement verschärften Corona-Lage mit hohen Infektions- und Todeszahlen. Und obwohl vergangenen Sommer Hunderttausende Menschen monatelang gegen den Premier und seine Regierung auf die Straße gingen und immer wieder skandierten: »Mafia raus!«

Zugleich treten bei dieser Wahl so viele neue Anti-Establishment-Parteien an wie selten zuvor – einige mit Chancen auf ein zweistelliges Wahlergebnis. Sie sind überwiegend aus der Protestbewegung des vergangenen Sommers hervorgegangen, etwa das Wahlbündnis »Demokratisches Bulgarien«, mitgegründet vom ehemaligen Justizminister Hristo Iwanow, der mit einem Facebook-Video über Korruption die Massenproteste ausgelöst hatte.

»Diese Wahl ist eine Abstimmung über das Herrschaftsmodell von Borissow«, sagt der Politologe Daniel Smilov vom Zentrum für Liberale Strategien (CLS) in Sofia. »Anders als in Ungarn oder Polen betreibt Borissow nach außen hin eine europafreundliche Politik. Innenpolitisch aber stützt er sich in intransparenter Weise auf Interessengruppen, die die Medien kontrollieren und Druck auf die Justiz ausüben. Dieses Modell hat dazu geführt, dass das gesamte Land anfällig ist für Korruption.«

Viele prominente Kritiker Borissows, darunter ehemalige Regierungsmitglieder wie Hristo Iwanow, sprechen davon, dass Bulgarien ein »gekaperter Staat« sei. Ein schwerwiegendes Urteil für ein EU-Mitgliedsland. Daniel Smilov hält es für angemessen. »Da Borissow allerdings ausgesprochen proeuropäisch ist, macht ihn das – anders als Orbán – als Problem für die EU weniger sichtbar.«

Für die EU wird es immer schwerer wegzuschauen

Allerdings wird es immer schwerer für die EU wegzuschauen. Zahlreiche Parteifreunde von Borissow und Regierungsmitglieder waren oder sind in Veruntreuung von EU-Geldern verstrickt. Vom Premier selbst gelangten im Juni vergangenen Jahres Aufnahmen an die Öffentlichkeit, die ihn mit Pistole, Goldbarren und Euroschein-Bündeln auf dem Nachttisch seines Schlafzimmers zeigen – aufgeklärt ist die Affäre bisher nicht.

Noch vor Monaten befand sich Borissows GERB in einem Umfragetief. Befreit haben sich die Partei und die Regierung daraus unter anderem mit einer nationalistischen Kampagne gegen Nordmazedonien. Insgesamt besteht die Stärke von Borissow und GERB jedoch vor allem in der Zersplitterung und programmatischen Unschärfe der Opposition.

»Die Protestbewegung hat sich politisch fragmentiert«

Die bulgarischen Sozialisten, Nachfolger der ehemaligen Kommunisten und größte Oppositionspartei, sind in Wirklichkeit eine Putin-freundliche, rechtsnationalistische Kraft und waren zu ihrer Herrschaftszeit selbst tief in Korruptionsaffären verstrickt.

Neu gegründete Parteien wie »Es gibt so ein Volk« (ITN) des populären Musikers und Entertainers Slawi Trifonow haben außer einem populistischen Anti-Mafia-Diskurs wenig Profil. »Die Protestbewegung hat sich politisch fragmentiert«, sagt Politologe Daniel Smilov. Und fügt hinzu: »Borissow wird die Oppositionsparteien im neuen Parlament gut gegeneinander ausspielen können.«

In den vergangenen Wochen tourte »Bruder Bojko«, wie er von seinen Anhängern auch genannt wird, nahezu täglich durch die bulgarische Provinz, meist selbst am Steuer eines SUV, die Hemdsärmel hochgekrempelt.

Er inspizierte Dörfer, Baustellen, Betriebe und Äcker und ließ jeden Auftritt auf Facebook posten. Die Botschaft dabei: Der Landesvater hat alles im Blick und sorgt für Ordnung. Zum Fall Ljudmil sagte er, ehemals selbst Bürgermeister Sofias, nichts.