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Melanie Amann

Die Lage am Morgen Frisch getestet zum Terminshopping

Melanie Amann
Von Melanie Amann, Leiterin des SPIEGEL-Hauptstadtbüros

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,

heute geht es um die Entzauberung eines Klassenstrebers und den Traum von Wirtschaftshilfen, die Erforschung einer Rüpel-Musikrichtung und die Aufarbeitung des Ibiza-Videos.

Der Musterschüler

Die nächste planmäßige Ministerpräsidentenkonferenz ist nur noch vier Tage entfernt – die Spannung steigt ins Unermessliche. Welche neuen Maßnahmen könnten die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten dieses Mal beschließen und sogleich kritisieren, kassieren oder vergessen? Oder läuft vielleicht dieses Mal doch alles anders? Schon heute könnte es Klarheit geben, ob die Bundeskanzlerin, wie im Interview bei Anne Will angedeutet, einen bundesweiten Lockdown doch lieber per Infektionsschutzgesetz vorschreiben will, anstatt sich auf die aus ihrer Sicht wohl widerspenstigen und wankelmütigen Länderchefinnen und -chefs zu verlassen.

Der Weg über Bundestag und womöglich Bundesrat wäre ein vergleichsweise kompliziertes, zeitraubendes Verfahren. Schneller ginge es, wenn die Länder einfach ihre eigenen Beschlüsse umsetzen würden, doch sogar Merkels Musterschüler Markus Söder tut dies nicht konsequent: Auch im Freistaat Bayern kann man in Gegenden mit einer Inzidenz über 100 noch frisch getestet zum »Terminshopping« gehen – Söder erlaubt also genau das, wofür Armin Laschet von der Kanzlerin bei Anne Will gerügt wurde.

Merkel setzt derweil übrigens schon ein anderes Versprechen aus diesem Interview um, nämlich dass sie dem Infektionsgeschehen »nicht tatenlos noch mehr als 14 Tage zusehen« werde. Noch sind ja auch keine 14 Tage seit dem Interview vergangen.

Der Gastgeber

Heute empfängt Wirtschaftsminister Peter Altmaier mehr als 40 Verbände zum Wirtschaftsgipfel – schon zum fünften Mal in dieser Pandemie. Ob Altmaier den Firmen wohl das Thema Home-Office-Pflicht nahebringen wird? Angesichts der pandemischen Lage mutet es verrückt an, dass laut Ifo-Institut noch zwei Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Büro ihre Gesundheit riskieren. Wie man sich dabei fühlt, haben meine Kollegen hier protokolliert.

Doch angesichts der »Verzweiflung und Zukunftsängste« der Wirtschaftsleute, von denen zuletzt der Dehoga-Präsident Guido Zöllick berichtete hatte, dürfte wohl weniger Altmaier seine Wünsche formulieren, als seine Gäste. Der wohl wichtigste wird lauten: kein Lockdown ohne Öffnungsperspektive. Auch nach dem versprochenen Härtefallfonds dürften die Wirtschaftsleute sich erkundigen, der bisher noch nicht in Sicht ist.

Überhaupt, die Wirtschaftshilfen. Man soll sich als Journalistin ja bei der Recherche nie nur auf Anekdoten aus dem Freundeskreis verlassen. Aber diese Nachricht eines befreundeten Unternehmers von Anfang der Woche möchte ich der geschätzten Lage-Leserschaft nicht vorenthalten:

»Es scheint übrigens, dass die Überbrückungshilfe III in den nächsten Tagen endlich bei uns ankommen müsste (nur ein Quartal und zwei Monate, nachdem der Schlamassel Anfang November wieder anfing), denn die von mir hoch geschätzte Bewilligungsstelle fragte uns heute spät nachmittags nach der Bankverbindung. Nicht, dass diese nicht bereits auf dem Antrag gestanden hätte, bzw. auf dem zweiten angepassten Antrag, und auf dem dritten erneut geänderten Antrag ... Vielmehr haben wir von gleicher Stelle ja schon Anfang November Kohle aus der Überbrückungshilfe 2 erhalten, daher müsste denen die IBAN eigentlich noch vorliegen...aber egal, wir haben sie heute gerne ein fünftes Mal mitgeteilt. Soll man da lachen oder weinen? Oder sich daran erinnern, dass das Finanzamt die IBAN beim Einziehen von Umsatz- und Lohnsteuer immer sehr gut kennt...?«

Seither sind die im Februar beantragten Hilfen übrigens nicht eingegangen.

Der Metallforscher

Forschung gibt es bekanntlich zu allen erdenklichen kulturellen Phänomenen, aber mein Kollege Frank Thadeusz hat eine Musikrichtung ausgemacht, die davon lange unberührt blieb: Metal. Thadeusz hat einen der wenigen Metal-Forscher, Marco Swiniartzki, interviewt, und der erklärt auch die Gründe: Da die Metalheads »nie mit einem politischen Ziel oder Anspruch angetreten« seien, habe die musikwissenschaftliche Forschung dieses Genre so lange vernachlässigt.

Für Metal-Fans hält dieses Interview einige unbequeme Wahrheiten parat: Metal sei nicht nur unpolitisch, sondern auch längst keine Jugendbewegung mehr, erklärt Swiniartzki, sondern »ein Lifestyle«, der Junge wie Alte, Männer, Frauen und sogar Familien mit Kindern anzöge. Kein Wunder: »Alkohol, Spiel und Sammelleidenschaften sind ja auch Teil mancher bürgerlichen Haushalte.« Und die meisten Musiker dieser Stilrichtung seien eben trotz ihrer Brüll-, Sauf- und Zottel-Auftritte »liebe, nette Familienväter«. Auch musikalisch müsse man Metal weniger als Revolution der Musikwelt, denn als Evolution sehen. Welcher Headbanger hört so etwas gerne?

Immerhin hat Swiniartzki ein tröstliches Wort für die Metal-Fans bereit: Ihre Szene habe die Quadratur des Kreises geschafft: »Man genießt als einzelner Fan das Gefühl, in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein.«

Der Kameramann

Auch fast zwei Jahre nach Enthüllung des Ibiza-Videos durch SPIEGEL und SZ, das die österreichische Regierung sprengte, dauert die Aufklärung dieses Falls noch immer an. Heute wird der Drahtzieher des heimlich aufgenommen Videos, auf dem sich der damalige FPÖ-Chef und spätere Vizekanzler Heinz-Christian Strache um seine politische Karriere redete, im Ibiza-Untersuchungsausschuss des österreichischen Parlaments aussagen.

Julian H. war Anfang März von Deutschland nach Österreich ausgeliefert worden, derzeit sitzt er in Untersuchungshaft. In einem Interview mit meinem Kollegen Sven Röbel und Cathrin Kahlweit von der SZ hat Julian H. freimütig zugegeben, die heimlichen Aufnahmen organisiert zu haben. Aber er sagte, er sei für seine Dienste nicht honoriert worden – und beteuert: »Ich habe niemanden angeheuert, niemanden bezahlt.«

Trotzdem dürften diese Fragen am spannendsten für die österreichischen Parlamentarier sein: Gab es nicht doch Auftraggeber im Hintergrund? Zahlte nicht doch jemand für die kompromittierenden Aufnahmen von Strache mit der angeblichen Oligarchin? Auch die Wirecard-Pleite könnte auf den Tisch kommen, zu der H. schon von deutschen Bundestagsabgeordneten als Zeuge im hiesigen Untersuchungsausschuss gelöchert wurde. Nur die hässlichen Vorwürfe über Drogen und Erpressung, derentwegen H. in Untersuchungshaft sitzt, dürften keine nennenswerte Rolle spielen. Dabei wird der Mann sein altes Leben nicht zurückbekommen, bis es ihm gelingt, diese Vorwürfe auszuräumen.

Verlierer des Tages…

…ist Charles Michel, Präsident des Europäischen Rats. Zwar liegt das Ereignis, das den Belgier zum Verlierer macht, schon zwei Tage zurück, nämlich der Besuch von Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Ankara. Aber es hat ein Weilchen gedauert, bis klar wurde, dass Verlierer dieses Besuchs weniger von der Leyen ist, für die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan keinen eigenen Stuhl bereitgestellt hatte (Stichwort: »Sofagate«), sondern Michel, der sich wie in einer türkischen Version des Spiels »Reise nach Jerusalem« auf seinen Stuhl fallen ließ, sobald der Moment gekommen war, Platz zu nehmen. Für von der Leyen blieb nur das Sofa.

Michel schien erst gar nicht auf die Idee zu kommen, von der Leyen seinen Sitzplatz anzubieten – was daran liegen könnte, dass die Institutionen Europäischer Rat und Europäische Kommission lieber ihre Konkurrenz zueinander pflegen, als sich gemeinsam für europäische Ziele gegenüber dem türkischen Staatsoberhaupt unterzuhaken.

Michel versuchte gestern Abend, sich in einer Erklärung auf Facebook zu rechtfertigen: »Wir«, also er und von der Leyen, hätten sich in dieser »bedauerlichen« Lage bewusst entschieden, keinen Eklat herbeizuführen, um den politischen Dialog nicht zu gefährden. Schließlich habe man mit Erdoğan über ein besonderes wichtiges Thema sprechen wollen: die Rechte von Frauen.

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