Dem Geheimnis auf der Spur:Der Philosoph als Lüstling

Dem Geheimnis auf der Spur: Wenn Jean-Paul Sartre traurig war, ahmte Simone de Beauvoir bisweilen John Wayne nach.

Wenn Jean-Paul Sartre traurig war, ahmte Simone de Beauvoir bisweilen John Wayne nach.

(Foto: Marcel Binh/AFP)

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir liebten das Kino. Sie drehten sogar mehrmals selbst Filme, die leider verschollen sind.

Von Fritz Göttler

Wittgenstein mochte Western, das gab ein großes Hallo, als sich das herumsprach, in den Achtzigern: dass der Meister des "Tractatus logico-philosophicus" gern die Kinos von Cambridge aufsuchte. Und seine Philosophie bekam, wenn man sie zusammendachte mit Hollywoods Genrekino, eine spielerische Transparenz und Leichtigkeit. Die Cinephilie als das große Geheimnis der modernen Philosophie, all die gemeinsamen Fragen von Wahrnehmung und Imagination, Bewusstsein und Erinnerung. In Frankreich hat Gilles Deleuze 1983 und 1985 ein zweibändiges Kinobuch vorgelegt, Jacques Lacan hat in vielen Vorlesungen bekundet, wie ihm die Filme von Luis Buñuel den Weg wiesen.

Auch Jean-Paul Sartre, der als strenger Existenzialist, Moralist und Marxist gilt, war dem Kino sehr zugetan - und das auf sehr spielerische Weise: Anfang der Dreißigerjahre drehte er mit seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir und dem befreundeten Ehepaar Paul und Henriette Nizan ein paar kleine Amateurfilme, just for fun. Die leider nicht erhalten sind, keiner hat sie gesehen, und auch bei Sartre war nicht wieder die Rede davon.

Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt, hat Sartre seine Existenzphilosophie auf den Punkt gebracht. Politisch engagierte er sich gegen Kapitalismus und Imperialismus, gegen den Krieg der USA in Vietnam. Im Jahr 1964 nahm er den ihm zugesprochenen Literaturnobelpreis nicht an, er wollte sich nicht von einer bürgerlichen Institution vereinnahmen lassen. Mit den Studenten ging er im Mai 68 auf die Straßen. Er komponierte voluminöse Analysen der Kollegen Jean Genet und Gustave Flaubert, residierte als moralische und intellektuelle Instanz im Café de Flore oder im Deux Magots. Immer wieder versuchte er sich nach Kriegsende an Drehbüchern: "Les jeux sont faits" 1947, "Die Hexen von Salem" 1957, eine Defa-Koproduktion nach dem Stück "The Crucible" von Arthur Miller, oder "Freud" 1962 - ein von John Huston inszenierter Film über die frühe Zeit des Meisters der Psychoanalyse, der in Sartres Fassung mehrere Stunden gedauert hätte.

Sartre spielte einen jungen Lüstling, der vom rechten Wege abgekommen war

Sartres Liebe zum Kino begann, wie sich das gehört, mit sieben Jahren. "Wir waren geistig im gleichen Alter", schreibt er in seinem Erinnerungsbuch "Die Wörter", "unsere gemeinsame Kindheit habe ich nicht vergessen." Ab 1912 ging er als Bub mit seiner Mutter oft ins Kintopp, wo er "Fantômas", "Maciste", "The Exploits of Elaine" sah. 1931 hielt er eine Rede zum Abschluss des Schuljahrs am Lycée von Le Havre, wo er Lehrer war, über die kinematografische Kunst - das Kino, hieß es da provozierend, diene ebenso der Bildung wie Griechisch der Philosophie.

Der Stummfilm erwies sich als ungemein produktiv, auch jenseits der Filmindustrie, in Frankreich zumal, dem Geburtsland des Kinos. Es gab viele Versuche, mit 16-Millimeter-Kameras, selbst finanziert oder durch reiche progressive Mäzene. Der junge Jean Renoir war dabei, Louis Delluc, Germaine Dulac, Man Ray, Marcel Duchamp, René Clair, Luis Buñuel und Salvador Dalí. Außerdem die Paare Sartre/Beauvoir sowie Paul und Henriette Nizan. Anfang der Dreißiger drehten sie alle zusammen "Tu seras curé" und "Le Vautour de la Sierra", zwei kleine Filme, die an die Schäferspiel-Kultur des 17. Jahrhunderts denken lassen.

Henriette Nizan erinnert sich an "Le Vautour de la Sierra": "Sartre spielte den Schäfer, der gegen den Geier kämpfte. Nizan war der Geier, bewaffnet mit einem Revolver. Sartre hatte einen Regenschirm. Simone de Beauvoir und ich waren die Schäferinnen. In einem anderen Film ("Tu seras curé" = du wirst gereinigt, du wirst Pfarrer) war Sartre ein junger Lüstling, vom rechten Wege abgekommen, den ein braver Geistlicher wieder zum Guten bekehrte. Sartre, im Frack, kam betrunken aus einer verrufenen Lokalität (wo Simone de Beauvoir und ich die Mädchen des Lasterlebens spielten). Die Szene spielte sich auf einer Terrasse ab. Der vom Weg Abgekommene traf Christus und verlangte von ihm, seine Zigarre anzuzünden. Christus reichte ihm also sein flammendes Herz ... Es war die Zeit der surrealistischen Filme."

Einen Western mit John Wayne schauen sich die beiden eine Woche lang jeden Abend an

In der Tat, das flammende Herz könnte gut in einem frühen Film von Buñuel vorkommen, der mit Filmen wie "Der andalusische Hund" oder "Das goldene Zeitalter" die bürgerlichen Zuschauer geschockt hatte. Es war die Zeit der Lust an Ritualen und Scharaden, die bürgerlichen Formen galten als hohl und überkommen und wurden deshalb mit extremer Lust ad absurdum durchgespielt. Die Imagination war allmächtig und der Abgleich mit der Realität nicht unbedingt erforderlich. Der Surrealismus wurde praktiziert im bürgerlichen Alltag, Kino ohne Kamera gewissermaßen. In seiner Autobiografie "Mein letzter Seufzer" beschreibt Buñuel die Hochzeit seines Freundes Paul Nizan: "Ich sah ganz genau die Kirche von Saint-Germain-des-Prés vor mir, die Hochzeitsgäste, darunter mich selbst, den Altar, den Priester und Jean-Paul Sartre als Trauzeugen. Eines Tages, letztes Jahr, sagte ich mir plötzlich: Aber das ist doch unmöglich! Niemals hätten sich Paul Nizan, ein überzeugter Kommunist, und seine Frau, die aus einer Familie von Atheisten stammte, kirchlich trauen lassen. Das war einfach undenkbar. Sollte ich eine Erinnerung umgeformt haben? War es eine erfundene Erinnerung? Eine Verwechslung?"

Sartre liebte übrigens auch Western. Im leeren Pariser Sommer 1939, der Kriegsbeginn drohte, schauten Simone de Beauvoir und er alle amerikanischen Filme an, die liefen, meist mehrfach. Einer ihrer liebsten ist "Stagecoach" von John Ford mit John Wayne. "Den haben wir uns eine Woche lang jeden Abend angeschaut", erinnerte sich Beauvoir. "Wir waren ganz hingerissen von diesem fabelhaften Amerikaner, und wenn Sartre schlechte Laune hatte, was zu der Zeit ziemlich oft der Fall war, versuchte ich ihn aufzuheitern, indem ich John Wayne nachmachte."

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