"Dachau liest":Brandaktuelle Weltliteratur

"Dachau liest": Michaela May erlebte ihren Durchbruch als Schauspielerin 1974 mit Helmut Dietls legendärer BR-Serie "Münchner Geschichten". Für die Lesungen der Alpen-Krimis von Nicola Förg gehört sie als Sprecherin zur Stammbesetzung.

Michaela May erlebte ihren Durchbruch als Schauspielerin 1974 mit Helmut Dietls legendärer BR-Serie "Münchner Geschichten". Für die Lesungen der Alpen-Krimis von Nicola Förg gehört sie als Sprecherin zur Stammbesetzung.

(Foto: Nils Schwarz)

Auch in diesem Jahr veranstaltet die Stadtbücherei wieder ihr Festival "Dachau liest". Im Oktober können sich die Besucher unter anderen auf die Autoren Edgar Selge, Nava Ebrahimi, Jaroslav Rudiš und Michaela May als Sprecherin freuen. Und auf Luzie, den Sohn des Teufels.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Das Leben schreibt die besten Geschichten, heißt es oft, doch es schreibt auch die traurigsten. Als der Leiter der Dachauer Stadtbücherei Steffen Mollnow vor zwei Jahren kurz vor seinem 44. Geburtstag starb, war das ein Schock und eine tiefe Zäsur. Mollnow hatte die Stadtbücherei zu einer Institution in Dachau gemacht, gemeinsam mit dem Schriftsteller Thomas Kraft hatte er auch das Festival "Dachau liest" etabliert. Man staunte immer wieder, welche namhaften Autoren die beiden in die kleine Stadt lockten und wie sie Jahr für Jahr ein anspruchsvolles und zugleich unterhaltsames Programm präsentierten. "Dachau liest" wurde nie ein elitäres Nischen-Event, es war immer ein Literaturereignis für die ganze Stadt.

Dank Mollnows Nachfolgerin Slávka Rude-Porubská ist das immer noch so. Bereits 2021 hat sie bewiesen, dass sie sein Erbe nicht nur bewahrt, sondern es auch weiterentwickelt. Alice Schwarzer stellte dort ihr "Lebenswerk" vor; es war die erste Präsentation ihres Buches überhaupt. Ein Coup. Auch die neue Auflage des Festivals glänzt mit Prominenz: Edgar Selge ist mit seinem hochgelobten Romandebüt "Hast du uns endlich gefunden" zu Gast, aber auch die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Nava Ebrahimi, die über äußere und innere Verstümmelungen schreibt, die die Gewalt in der Region am Persischen Gold den Menschen zufügt. "Dachau liest" geht vom 5. bis zum 9. Oktober, die Lesungen finden im Thoma-Haus statt. Ein Überblick.

Krimi mit Tiefgang

"Dachau liest": Nicola Förg, Bestsellerautorin und Journalistin, hat zahlreiche Kriminalromane verfasst.

Nicola Förg, Bestsellerautorin und Journalistin, hat zahlreiche Kriminalromane verfasst.

(Foto: Florian Deventer)

Krimis gibt es zu jedem erdenklichen Thema, zu jedem Milieu und zu jeder Zielgruppe, auch ermittelnde Katzen und Schafe sind nichts Neues mehr. Zu den anhaltend erfolgreichen Trends im Genre gehören Regionalkrimis, Nicola Förg hat es mit ihren "Alpenkrimis" sogar auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Mit dem 13. Band der Reihe, "Hohe Wogen", kommt sie zu "Dachau liest". Diesmal ermitteln Irmi Mangold und Kathi Reindl in einem rätselhaften Mordfall am Starnberger See. Auf einem SUP-Board treibt eine tote Frau, in ihrer Brust steckt ein Fünfzack, das Opfer wurde regelrecht "festgepinnt".

Auf der Suche nach Tätern und Mordmotiv rückt die Krimiautorin und Journalistin Themen ins Blickfeld, die Oberbayerns schöne Seen zu konfliktträchtigen Orten machen: gedankenlose Wassersportler, die in geschützte Biotope paddeln, Umweltschützer, die sich darüber empören und vom Tourismus genervte Einheimische. Präsentiert wird das Buch am 5. Oktober um 20 Uhr in einer szenischen Lesung mit der Schauspielerin Michaela May. Förg-Fans wissen warum: May hat die Alpenkrimis schon in der Vergangenheit als Hörbücher eingesprochen.

Im Zweifel über den Angeklagten

"Dachau liest": Christoph Poschenrieder liest aus seiner psychologischen Studie über den Münchner "Parkhausmord" vor.

Christoph Poschenrieder liest aus seiner psychologischen Studie über den Münchner "Parkhausmord" vor.

(Foto: Daniela Agostini)

2006 machte der Münchner "Parkhausmord" Schlagzeilen: Eine Unternehmerin wurde brutal umgebracht. Die Ermittlungen führten die Polizei bald zu ihrem Neffen. Zwei Jahre später wurde der Mann zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Schriftsteller Christoph Poschenrieder hat sich von diesem Fall zu seinem Buch "Ein Leben lang" inspirieren lassen. Andere hätten daraus einen reißerischen Krimi gestrickt, Poschenrieder entwickelt daraus eine psychologische Studie von kühler Sachlichkeit. Der Münchner Autor lenkt das Licht auf die Freunde des Verurteilten. Sie suchen weiter nach Beweisen für seine Unschuld.

15 Jahre nach der Tat werden sie für ein Buchprojekt nochmals getrennt voneinander befragt. Die Notizen der Journalistin, die Kurzberichte des Anwalts und die Aussagen der Freunde montiert Poschenrieder geschickt zu einem literarischen Drama um Loyalität und Zweifel. "Es ist ja nicht nur der Druck in der Gruppe, der sich bemerkbar macht", erläuterte Poschenrieder in einem Interview mit der Abendzeitung, was ihn bei diesem Buch umgetrieben habe. "Es gibt auch einen Druck auf den Angeklagten. Der muss ja jeden Morgen aufstehen und in den Spiegel schauen. Und dann sieht er im Gerichtssaal seine Freunde und die Erwartungen, die sie ihm entgegenbringen, ihre selbstverständliche Annahme, dass er es nicht getan haben kann."

Im Gespräch mit Moderator Günter Keil zu dem Buch geht es am 6. Oktober ab 20 Uhr um Fragen wie: Was passiert, wenn passiert, was nicht passieren darf? Was ist Freundschaft und was hält sie aus? Wem kann man trauen, wenn die eigenen Erinnerungen täuschen?

Zwei Welten prallen aufeinander

"Dachau liest": Nava Ebrahimi gewann den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Nava Ebrahimi gewann den Ingeborg-Bachmann-Preis.

(Foto: Peter Rigaud/Shotview)

Seine Mutter ist in einer Klinik im iranischen Täbris gestorben. Das erfährt Ali Najjar aus dem Brief eines Verwandten. Für ihn war diese "unbedarfte Frau, die weder lesen noch schreiben gelernt hatte und mit 14 Jahren verheiratet worden war", und die "der Lauf der Geschichte" in "ein gieriges Monster" verwandelt hatte, schon lange tot. So schreibt es die in Teheran geborene Autorin Nava Ebrahimi in ihrem Roman "Das Paradies meines Nachbarn".

Naijjar führt jetzt ein ganz anderes Leben, ein neues Leben: Er ist Stardesigner und leitet ein Studio in München, er lebt in einer Hochglanzwelt, die kaum in stärkerem Kontrast zu seiner Vergangenheit im Iran stehen könnte. Vor seiner Flucht nach Deutschland war er Kindersoldat im Ersten Golfkrieg. Noch einmal reist er zurück in die Region am Persischen Golf. Dort trifft er auf einen Mann, der ähnlich grausame Erfahrungen gemacht hat wie er, doch im Gegensatz zu Najjar in seiner Heimat geblieben ist.

Bei den Rezensenten erntete das Werk großes Lob. "Brandaktuelle Weltliteratur" sei dieses Buch, in dem Fragen nach Verantwortung, Identität, Fremdheit und Ignoranz verhandelt würden. Moderiert wird die Lesung am 7. Oktober um 20 Uhr von von Maryam Aras.

Alles einsteigen, bitte!

"Dachau liest": Jaroslav Rudiš, war zu kurzsichtig, um bei der Bahn zu arbeiten - und wurde Schriftsteller.

Jaroslav Rudiš, war zu kurzsichtig, um bei der Bahn zu arbeiten - und wurde Schriftsteller.

(Foto: Peter von Felbert)

Seine Eltern haben sich im Zug kennengelernt, Cousin Ivan war Lokführer, Onkel Miroslav Bahnhofsvorsteher und Großvater Alois Weichensteller. Miroslav und Alois heirateten sogar in Eisenbahner-Uniform und wurden auch damit begraben. Da hätte man eigentlich annehmen dürfen, dass auch Jaroslav Rudiš Eisenbahner wird. Er selbst zeigt sich überzeugt, dass er sich in dieser Rolle auch sehr gut gemacht hätte. Aber die Tschechoslowakischen Staatsbahnen wollten Mitte der Achtziger keinen, "der die roten Schlusslichter des Schnellzugs womöglich mit den Sternen am Himmel verwechselt".

Seine Sehschwäche wurde Jaroslav Rudiš zum Verhängnis. Andererseits wäre er ohne sie vielleicht nicht Schriftsteller geworden und hätte nicht so wunderbare Geschichten über das Bahnfahren geschrieben wie in seiner "Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen". Sie nehmen die Leser in den Nachtzug durch Polen und die Ukraine mit oder zu einem Trip mit der Schmalspurbahn in den Harz. Für die abgefahrenen Geschichten ist bei "Dachau liest" am 8. Oktober um 20 Uhr auch der perfekte Zugbegleiter abgestellt: Es moderiert SZ-Redakteur Alex Rühle.

Szenen einer Kindheit

"Dachau liest": Edgar Selge erzählt von seinem Aufwachsen in den 1960er Jahren.

Edgar Selge erzählt von seinem Aufwachsen in den 1960er Jahren.

(Foto: Muriel Liebmann)

Das Romandebüt "Hast du uns endlich gefunden" des mittlerweile 74-jährigen Edgar Selge hat sowohl bei Lesern wie Kritikern große Anerkennung gefunden. Der bekannte Schauspieler erzählt darin von einer Kindheit in der Nachkriegszeit, die sich nahe an seiner eigenen Lebensgeschichte entlangbewegt. Der Vater ist Leiter eines Jugendgefängnisses, für die Insassen organisiert er Klassikkonzerte im eigenen Haus. Das Schöne, das Erhabene soll in der Familie des Zwölfjährigen und seiner Brüder die Schatten des Krieges vertreiben. Doch in dieser bildungsbürgerlichen Welt gibt es auch Gewalt, Schläge mit dem Rohrstock und die Schatten der Nazi-Vergangenheit. Gleichzeitig hat dieses Buch wunderbar komische Momente, etwa, wenn der durchs Schlüsselloch beobachtete Vater sich vor einem imaginären Publikum verbeugt - und sich zart andeutet, dass er vielleicht von einer Künstlerkarriere geträumt hätte.

Im Pressetext der Stadtbücherei heißt es, das Buch lege "eindringlich all die Ambivalenzen offen, die in Eltern-Kind-Beziehungen liegen - die gegenseitigen Verletzungen und Trost, das Einander-Verlieren und Wiederfinden, und die unerschütterliche Liebe, trotz allem". Am 9. Oktober um 17 Uhr unterhält sich Edgar Selge mit dem Kulturjournalisten Knut Cordsen über sein Aufwachsen in den 1960er-Jahren.

Zu gut für die Hölle

"Dachau liest": Jochen Till schreibt über einen Teufelssohn, der kein Fiesling sein will.

Jochen Till schreibt über einen Teufelssohn, der kein Fiesling sein will.

(Foto: Niko Neuwirth)

Kinder zwischen acht und zwölf Jahren können sich in diesem Jahr auf eine teuflisch lustige Lesung freuen. Jochen Till liest am 6. Oktober um 15 Uhr aus dem ersten Band der Reihe "Luzifer junior - Zu gut für die Hölle". Luzifer, genannt Luzie, ist elf Jahre alt. Der Sohn des Teufels soll später mal die Hölle übernehmen.

Doch sein ausgeprägter Sinn für Fairness passt nicht zu dem altbewährten Höllenkonzept. Luzifers Vater schickt ihn kurzerhand auf die Erde ins Sankt-Fidibus-Internat, damit er lernt, ein richtiger Fiesling zu werden. Wie so oft, geht der Plan des Teufels nicht ganz auf. Der Eintritt zur Kinderveranstaltung ist frei.

Karten zum Preis von 14 Euro zuzüglich Vorverkaufsgebühr sind im Online-Vorverkauf über München Ticket und in der Tourist-Information der Stadt Dachau erhältlich.

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