Rainer Werner Fassbinder:Keiner lebte exzessiver, keiner sorgte für so viele Skandale

Rainer Werner Fassbinder

Regiegenie, Wunderkind, ewiger Provokateur: Rainer Werner Fassbinder wurde nur 37 Jahre alt, er starb im Juni 1982. Hier ist er bei den Dreharbeiten des Films "Lola" in München zu sehen.

(Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Vor 40 Jahren starb Rainer Werner Fassbinder. Der Regisseur war der wohl wichtigste Vertreter des Neuen Deutschen Films. Doch was ist von ihm geblieben? Eine Spurensuche.

Von Josef Grübl

Fassbinders München

Auch wenn man sich unter einem Münchner Kindl vielleicht etwas anderes vorstellt: Rainer Werner Fassbinder war durch und durch Münchner - obwohl er in Bad Wörishofen geboren wurde. Seine Eltern hatten das zerbombte München vor Kriegsende verlassen, ihr Sohn kam am 31. Mai 1945 zur Welt. Kurze Zeit später kehrten sie aber nach München zurück. Der Vater war Arzt und eröffnete in der Sendlinger Straße eine Praxis. 1951 zerbrach die Ehe. Der Junge blieb bei der Mutter, man zog in die Lindwurmstraße, an die Theresienwiese und nach Bogenhausen. Die beiden verband eine Hassliebe, sie steckte ihn in Internate und Schülerwohnheime, er ging lieber ins Kino als in die ständig wechselnden Schulen.

Mit 14 teilte er der Mutter mit, dass er schwul sei; mit 16 ging er von der Schule ab. Im Herbst 1963 begann Fassbinder eine Schauspielausbildung, obwohl er schon damals Regisseur werden wollte. Eine Zeit lang lebte er mit einem Mann in der Rathgeberstraße in Moosach zusammen, dann zog er weiter in die Ainmillerstraße zu Irm Hermann, die er über eine Freundin kennengelernt hatte. So ging es weiter, allzu lange hielt er es nirgendswo aus. Mal lebte er in einer Künstlerkommune in Feldkirchen, mal in einer Wohnung in der Reichenbachstraße. Im gegenüberliegenden Hotel "Deutsche Eiche" hatte er 1974 den Kellner Armin Meier kennenlernt, die beiden wurden ein Paar. 1978 trennten sie sich, Meier nahm sich daraufhin das Leben. Auch sein Liebhaber El Hedi ben Salem, der in einigen seiner Filme mitspielte und mit seinen Söhnen nach München gezogen war, verstarb wenige Jahre nach der Trennung in einem französischen Gefängnis.

Rainer Werner Fassbinder: In den Siebzigerjahren galt die "Deutsche Eiche" als Fassbinders "Wohnzimmer", nach einer Renovierung in den Neunzigerjahren sieht das Haus heute ganz anders aus.

In den Siebzigerjahren galt die "Deutsche Eiche" als Fassbinders "Wohnzimmer", nach einer Renovierung in den Neunzigerjahren sieht das Haus heute ganz anders aus.

(Foto: Stephan Rumpf)

Zuletzt wohnte Fassbinder in der Schwabinger Clemensstraße, in der Dachgeschosswohnung eines Filmproduzenten. Das alles kann man in Jürgen Trimborns gut recherchierter Fassbinder-Biografie "Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben" nachlesen: Es ist ein Ausflug in eine andere Zeit, München hat sich seitdem stark verändert. Ein Stadtführungs-Anbieter veranstaltet trotzdem eine "Fassbindertour", unter anderem geht es in die "Deutsche Eiche" (die aber heute ganz anders aussieht als in den Siebzigern). In Giesing hat man eine Fachoberschule nach ihm benannt, im Arnulfpark gibt es seit 2004 den Rainer-Werner-Fassbinder-Platz, mit dazugehörigem Bodenkunstwerk. Wer das Grab dieses Münchner Kindls besuchen möchte, findet es auf dem Friedhof Bogenhausen.

Fassbinders Filme

Rainer Werner Fassbinder: Womit alles begann: 1969 drehte Fassbinder sein Spielfilmdebüt "Liebe ist kälter als der Tod", er stand auch gemeinsam mit Hanna Schygulla vor der Kamera.

Womit alles begann: 1969 drehte Fassbinder sein Spielfilmdebüt "Liebe ist kälter als der Tod", er stand auch gemeinsam mit Hanna Schygulla vor der Kamera.

(Foto: Kinowelt GmbH)

Gerade einmal 13 Jahre blieben ihm, um zum wohl wichtigsten Regisseur des Neuen Deutschen Films zu werden. In diesen Jahren schuf er mehr als 40 Spielfilme und zwei Fernsehserien, 24 Theaterstücke und vier Hörspiele - auch in Sachen Quantität war er eben ein Ausnahmekünstler. "Jeder vernünftige Regisseur hat nur ein Thema, macht eigentlich immer denselben Film", sagte er einmal. "Bei mir geht es um die Ausbeutbarkeit von Gefühlen, von wem auch immer sie ausgebeutet werden." Und ausgebeutet, unterdrückt und benutzt werden seine Figuren in der Tat dauernd. Meistens arbeitete er mit denselben Leuten, seiner Ersatzfamilie, zeitweise lebte er auch mit ihnen zusammen. Irm Hermann etwa half ihm bei seinen ersten Kurzfilmen, auch Hanna Schygulla, Ingrid Caven oder Hans Hirschmüller spielten schon in seinem Spielfilmdebüt "Liebe ist kälter als der Tod" (1969) mit.

Sie beutete er ebenfalls aus, unterdrückte und benutzte sie. Die Schauspieler waren aber nicht nur Opfer, sondern profitierten auch von der Zusammenarbeit; das Verhältnis zu ihrem Unterdrücker war kompliziert. In den ersten Jahren drehte Fassbinder unfassbar schnell, teilweise bis zu sieben Spielfilme pro Jahr. Trotzdem arbeitete er präzise, frühe Filme wie "Katzelmacher", "Händler der vier Jahreszeiten" oder "Angst essen Seele auf" gelten als Meisterwerke. Er beschäftigte sich mit der NS-Vergangenheit, dem Wirtschaftswunder oder dem Terror der RAF, seine BRD-Trilogie über Frauen der Nachkriegszeit ("Die Ehe der Maria Braun", "Lola", "Die Sehnsucht der Veronika Voss") wurde auch international gefeiert. 1980 versuchte er sich mit "Lili Marleen" an großem Ausstattungskino, drei Monate vor seinem Tod entstand die Jean-Genet-Adaption "Querelle". Der bei Schirmer/Mosel erschienene Bildband "R.W. Fassbinder - Die Filme" bietet einen Überblick über das komplette filmische Werk. Die meisten seiner Filme sind auf DVD oder Blu-ray erhältlich, bei Anbietern wie Mubi oder Amazon Prime kann man sie auch streamen.

Fassbinder und das Theater

Rainer Werner Fassbinder: Studierende der Otto-Falckenberg-Schule üben sich derzeit in einer Neuinterpretation des Fassbinder-Films "Die dritte Generation" (1979).

Studierende der Otto-Falckenberg-Schule üben sich derzeit in einer Neuinterpretation des Fassbinder-Films "Die dritte Generation" (1979).

(Foto: Emma Szabo)

Seine Eltern verband nicht viel, nur die Liebe zur Literatur. Diese gaben sie an ihren Sohn weiter, der trotz schulischer Misserfolge als sehr belesen galt. Als seine Mutter erneut heiratete, zog er 1961 zum Vater nach Köln. Dort hielt er es nicht lange aus, etwa in jener Zeit fing er aber mit dem Schreiben an. Seine Gedichte wurden vor ein paar Jahren als Buch mit dem Titel "Im Land des Apfelbaums" veröffentlicht. Schon damals stand sein Berufswunsch fest, an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin lehnte man ihn aber ab. Also ging der Autodidakt den Weg über das Theater, mischte das Münchner Action-Theater auf und gründete 1968 mit Peer Raben, Hanna Schygulla und Kurt Raab das "antiteater". Mit ihnen realisierte er auch ein Jahr später sein Spielfilmdebüt "Liebe ist kälter als der Tod". Dem Theater blieb er trotzdem treu, 1974 war er sogar Intendant am Frankfurter Theater im Turm. Dort entstand das Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod", das eine heftige Antisemitismus-Debatte auslöste - und Jahre später in New York oder Tel Aviv aufgeführt werden sollte. Noch heute steht Fassbinder auf vielen Theaterspielplänen, mit Stücken wie "Bremer Freiheit" oder Adaptionen seiner Filme ("Satansbraten", "In einem Jahr mit 13 Monden"). Derzeit ist im Werkraum der Kammerspiele eine Inszenierung seines Films "Die dritte Generation" zu sehen. Die nächsten Aufführungen finden am 14. und 15. Juni statt.

Serienmacher Fassbinder

Rainer Werner Fassbinder: 1980 verfilmte Fassbinder (links im Bild, neben Elisabeth Trissenaar, Günter Lamprecht und Franz Buchrieser) Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz".

1980 verfilmte Fassbinder (links im Bild, neben Elisabeth Trissenaar, Günter Lamprecht und Franz Buchrieser) Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz".

(Foto: imago images/United Archives)

Im Alter von 14 Jahren las er Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz", der Roman aus dem Jahr 1929 beeindruckte ihn nachhaltig. Döblin-Figuren wie Franz Biberkopf, Reinhold oder Mieze tauchen in Fassbinders Filmen auf, im meisterhaften Melodram "Faustrecht der Freiheit" (1974) heißt die vom Regisseur selbst gespielte Hauptfigur sogar Franz Bieberkopf - nur das "e" in der Mitte unterscheidet ihn vom Vorbild. 1980 verfilmte Fassbinder den Döblin-Roman dann endlich: als 14-teilige Fernsehserie, mit Günter Lamprecht, Gottfried John und Barbara Sukowa in den Hauptrollen. Gedreht wurde in den Studios der Bavaria Film und in Berlin, die Weltpremiere fand bei den Filmfestspielen in Venedig statt. Bei der Ausstrahlung gab es aber Ärger: Angeblich waren die Bilder zu dunkel, das Fernsehpublikum konnte kaum etwas sehen. Anlässlich Fassbinders 40. Todestag findet im Münchner Monopol Kino eine Sonderveranstaltung statt: Von Freitag, 10., bis Sonntag, 12. Juni, wird der komplette und digital restaurierte "Berlin Alexanderplatz" aufgeführt, dazu gibt es Gespräche mit Beteiligten wie dem Kameramann Xaver Schwarzenberger, der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar oder Fassbinders treuem Mitarbeiter Harry Baer.

Filme über Fassbinder

Rainer Werner Fassbinder: Schreckliches Kindl: Oliver Masucci (hier mit Katja Riemann) spielte Fassbinder 2020 im Kinofilm "Enfant Terrible" - und bekam dafür den Deutschen Filmpreis.

Schreckliches Kindl: Oliver Masucci (hier mit Katja Riemann) spielte Fassbinder 2020 im Kinofilm "Enfant Terrible" - und bekam dafür den Deutschen Filmpreis.

(Foto: Weltkino Filmverleih/dpa)

"Schlafen kann ich, wenn ich tot bin", sagte Fassbinder einmal. Am 10. Juni 1982 ist er für immer eingeschlafen, er wurde nur 37 Jahre alt. Zuletzt arbeitete er an einem Film über Rosa Luxemburg, Jane Fonda hatte bereits für die Titelrolle zugesagt. Zu dieser Zusammenarbeit sollte es nicht mehr kommen, dafür hatte er zu viel gearbeitet und gelebt, zu viel Kokain, Alkohol und Tabletten zu sich genommen. Doch wie sollte es ohne ihn weitergehen? Nur wenige Wochen vor seinem Tod entstand in Cannes der Interviewfilm "Chambre 666", darin sprach er über die Zukunft des Kinos. Und auch wenn diese ohne ihn stattfinden sollte, ging es natürlich weiter. Eine ganze Reihe von Dokumentationen befassten sich mit ihm, im Jahr 2000 sprach Rosa von Praunheim für seinen Film "Für mich gab's nur noch Fassbinder" mit dessen "glücklichen Opfern" Eva Mattes, Michael Ballhaus, Irm Hermann oder Barbara Valentin. 2015 versuchte sich die Kinodoku "Fassbinder" an einer Art Schelldurchlauf durch sein Leben. Und dann wäre da noch Oskar Roehlers "Enfant Terrible" mit Oliver Masucci in der Hauptrolle. Es ist kein Fassbinder-Biopic, sondern ein Film wie ihn dieser vielleicht selbst gedreht hätte: künstlich, rastlos, radikal. "Enfant Terrible" lief 2020 im Kino und ist aktuell auf DVD erhältlich, in den kommenden Monaten steht die TV-Ausstrahlung an.

Fassbinders Erbe

Rainer Werner Fassbinder: Aus Petra wird Peter: Der diesjährige Berlinale-Eröffnungsfilm "Peter von Kant" mit Denis Menochet und Isabelle Adjani erzählt Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" neu.

Aus Petra wird Peter: Der diesjährige Berlinale-Eröffnungsfilm "Peter von Kant" mit Denis Menochet und Isabelle Adjani erzählt Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" neu.

(Foto: MFA+ Filmdistribution)

Der als Wunderkind und Regiegenie bezeichnete Künstler hat zwar ein großes Erbe hinterlassen, aber kein Testament. Nach seinem Tod wurden seine Eltern als Erben eingesetzt. Liselotte Eder und Helmuth Fassbinder waren zu jener Zeit aber längst geschiedene Leute, also bezahlte sie ihn aus und gründete 1986 die "Rainer Werner Fassbinder Foundation". Diese kümmert sich um den Erhalt und die Auswertung seines Werks. Eder starb 1993, ein Jahr zuvor setzte sie Juliane Lorenz, die ehemalige Cutterin ihres Sohnes, als Erbin und geschäftsführende Gesellschafterin ein. Seitdem wurden viele Fassbinder-Filme digital restauriert und Retrospektiven organisiert, auch die mitunter komplizierten Rechtslagen von Filmen wie "Martha" klärte man.

Dafür gab es viel Lob und noch mehr Tadel: Andere enge Fassbinder-Mitarbeiter fühlten sich ausgeschlossen und um ihre Rechte gebracht, seit Jahren tobt ein bizarrer Streit um die Deutungshoheit über Leben und Werk des Filmemachers. Sein schriftlicher Nachlass wurde 2019 an das deutsche Filminstitut Frankfurt verkauft, in Fassbinders Heimatstadt München nahm man das verschnupft zur Kenntnis. In der breiten Öffentlichkeit gilt er heute als nahezu vergessen, Fassbinder-Fans gibt es aber immer noch: Regiestars wie Pedro Almodóvar, Todd Haynes oder François Ozon sind ausgesprochene Fans, der Franzose Ozon verfilmte im Jahr 2000 mit "Tropfen auf heiße Steine" ein Theaterstück Fassbinders. Vor drei Monaten eröffnete er mit "Peter von Kant" die Berlinale. Der Film bezieht sich auf den 1972 entstandenen Fassbinder-Film "Die bitteren Tränen der Petra von Kant", in den Kinos startet diese filmische Neuinterpretation im September.

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