„Als Bundeskanzlerin entscheide ich selbst, wen ich empfange und wo.“ Mit diesen Worten verteidigte Angela Merkel (CDU) im Jahr 2007 in der „Bild“-Zeitung ihre Entscheidung, den Dalai Lama im Kanzleramt zu empfangen. Der Dalai Lama ist das religiöse Oberhaupt der Tibeter. Aber die Volksrepublik betrachtet ihn als Separatisten und bezeichnet ihn als „Wolf in Mönchsrobe“. Das Gespräch der Kanzlerin mit dem Dalai Lama hatte nicht nur Peking verärgert, sondern auch für Kritik von ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) gesorgt.
Doch Merkel zeigte sich damals erstaunlich unbeeindruckt. „Schaufensterpolitik“ hatte Steinmeier ihr vorgeworfen. Das ließ die Kanzlerin nicht auf sich sitzen. Ein Gespräch mit dem Dalai Lama stelle weder die deutsche Ein-China-Politik infrage noch die Bedeutung Chinas als aufstrebende Wirtschaftsmacht, erklärte Merkel. Schließlich ging sie sogar so weit, der Pekinger Führung zu einem direkten Gespräch mit dem Dalai Lama zu raten. Wie sich die Zeiten geändert haben.
Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, muss man feststellen: Merkel hat ihren Kurs nicht durchgehalten. Misst man sie an ihren eigenen Worten, dürfte es für die Bundeskanzlerin auch kein Problem sein, Tsai Ing-wen im Kanzleramt zu empfangen, die Präsidentin Taiwans – eines Landes, das unabhängig ist, das die Volksrepublik aber als ihr Territorium betrachtet. Nicht einmal im Traum denkt Merkel daran.
Seit dem Treffen mit dem Dalai Lama hat es Merkel zum Imperativ ihres Regierens gemacht, nichts zu sagen, was die Volksrepublik verstimmen könnte. Ihre Furcht vor Pekings Furor lässt die Kanzlerin zu den wildesten Beschönigungen greifen. Das chinesische „Sicherheitsgesetz“ für Hongkong nannte sie eine „besorgniserregende Entwicklung“. Tatsächlich ist das „Sicherheitsgesetz“ aber ein Bruch internationalen Rechts.
Merkel hat damit zugelassen, dass der Handel das politische Verhältnis zwischen Berlin und Peking in seine Gewalt genommen hat. Das deutsch-chinesische Verhältnis steckt heute fest im Würgeriff der Handelsbeziehungen. Kritiker geißeln die deutsche Chinapolitik deswegen als „Automobil-Außenpolitik“. Zu Merkels Vermächtnis gehört auch: Es wird schwer sein, das deutsch-chinesische Verhältnis aus dieser Sackgasse herauszuführen.
Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, welches Interesse die Kanzlerin dem Reich der Mitte entgegenbringt. In 15 Regierungsjahren ist sie zwölfmal nach China gereist. Sie hat nicht nur die glitzernden Metropolen entlang der Ostküste bereist, sondern auch staubige Provinzhauptstädte im Hinterland. Allein: Zu strategischer Weitsicht gegenüber der Volksrepublik hat es nicht geführt.
Dabei hätte man es kommen sehen können. 2001 – im Jahr zuvor war Merkel CDU-Chefin geworden – trat die Volksrepublik der Welthandelsorganisation (WTO) bei. Im Westen weckte das große Hoffnungen: Der sozialistische Staat werde sich erst wirtschaftlich reformieren, so die Annahme, dann politisch. „Wandel durch Handel“ nennt man das in Berlin. Tatsächlich wuchs die chinesische Wirtschaft zweistellig. Doch die politische Liberalisierung blieb aus. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus das Thema des Jahrzehnts – und nicht Chinas globaler Aufstieg.
Autoritäre Wende unter Xi
2012 betrat dann Xi Jinping die Bühne. Er stieg zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei (KP) auf – und übernahm damit das einflussreichste politische Amt, das die Volksrepublik zu vergeben hat. Was sich zuvor abgezeichnet hatte, wurde nun augenfällig: Politische Reformen würde es in China nicht geben – im Gegenteil, das Land durchlief eine autoritäre Wende. Xi ging gegen Bürgerrechtsanwälte vor und nutzte eine Anti-Korruptions-Kampagne, um seine politischen Gegner auszuschalten.
2014 – im Jahr zuvor hatte Merkel ihre dritte Kanzlerschaft angetreten – startete er in der nordwestlichen Provinz Xinjiang einen sogenannten Anti-Terror-Kampf. Seit 2017 – da begann gerade Merkels letzte Kanzlerschaft – ist bekannt, dass China den „Anti-Terror-Kampf“ als Vorwand nutzt, um unschuldige Muslime in Internierungslager zu werfen.
Aber in all diesen Jahren des erstarkenden Autoritarismus gab es für die deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen nur eine Richtung: nach vorne. 2016 überholte China erstmals die USA – und stieg zum wichtigsten deutschen Handelspartner auf. Diese Position hat Peking bis heute inne. 2019 war die Volksrepublik zum vierten Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner.
Peking hat damit den Beweis erbracht, dass die Idee des Wandels durch Handel ein frommer Wunsch ist. Mit seinem WTO-Beitritt ist China reich und mächtig geworden. Aber politisch liberalisiert hat es sich nicht. Es hat die Offenheit des europäischen Marktes genutzt, um sich zu bereichern. Aber es hat den Europäern nicht die gleiche Offenheit eingeräumt.
Die Verhandlungen der EU mit Peking über ein Abkommen, das Marktzugang und Investitionsschutz verbessern soll, gehen demnächst ins achte Jahr. Mit den Internierungslagern in Xinjiang und dem Völkerrechtsbruch in Hongkong zeigt Peking inzwischen ganz offen, dass es sich nicht um Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit schert.
Doch die Bundesregierung ignoriert das. Peter Altmaier (CDU), Merkels Wirtschaftsminister, fantasiert in Interviews immer noch von der magischen Kraft des Handels. „Ich war immer überzeugt und glaube immer noch daran, dass Veränderungen durch Handel erreicht werden können“, sagte er jüngst.
Thomas Bagger, Referatsleiter Ausland im Bundespräsidialamt, hat im vergangenen Jahr im Magazin „The Washington Quarterly“ einen bemerkenswerten Essay veröffentlicht. Darin analysiert er die Wirkung der Wiedervereinigung auf die deutsche Außenpolitik. Der Glaube, dass das Ende der Geschichte erreicht sei, sei nach 1989 wohl nirgends so stark ausgeprägt gewesen wie in Deutschland, schreibt Bagger: „Persönliches Handeln oder gar Charisma waren in der Politik nicht mehr ausschlaggebend.“ Denn durch die Erfahrung des Mauerfalls sei Deutschland von der Annahme eingenommen gewesen, dass sich der Wille der Geschichte von selbst vollziehe – und sich in Richtung Demokratisierung bewege. Treffender kann man die Abwesenheit einer deutschen Chinapolitik kaum erklären.
In ihrer 15 Jahre währenden Regierungszeit hat es Merkel versäumt, eine Chinapolitik zu formulieren, die über Handelspolitik hinausgeht. Damit steht ihr politisches Vermächtnis auf dem Spiel.
Im November wählen die USA einen neuen Präsidenten. Wenn Joe Biden die Wahl gewinnt, könnte das Merkels politisches Vermächtnis retten. Denn der Demokrat hat – im Gegensatz zu Donald Trump – signalisiert, dass er mit Washingtons europäischen Partnern zusammenarbeiten möchte. Eine transatlantische Chinapolitik würde der Bundesregierung die Aufgabe abnehmen, einen eigenen politischen Ansatz zu entwickeln. Aber wenn Donald Trump im Amt bleibt, steht Deutschland vor einem Dilemma.
Trump ist Isolationist; Bündnistreue und Multilateralismus sind für ihn Inbegriffe von Schwäche. Nicht nur müsste die nächste Bundesregierung dann das politische Verhältnis zu China aus den Händen der Handelspolitik befreien. Auch müsste sie sich aus sicherheitspolitischen Gründen von einer unzuverlässigen US-Regierung befreien. Merkel ist oft als ein Anker der Stabilität beschrieben worden. Aber sie könnte Deutschland in eine schwierige Situation geführt haben.