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  4. Auschwitz: Filip Müller berichtete, was in den KZ-Krematorien geschah

Zweiter Weltkrieg Befreiung von Auschwitz

Von allen Orten der Hölle auf Erden waren die Krematorien die schlimmsten

Von 1942 bis 1945 gehörte der slowakische Jude Filip Müller zum Sonderkommando im NS-Vernichtungslager Birkenau. Mit Hunderten Leidensgenossen musste er die Gaskammern und Krematorien betreiben.
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Das Chaos rettete sein Leben. Eigentlich hatte die Lager-SS vorgehabt, alle Häftlinge des Sonderkommandos zu töten, bevor Auschwitz-Birkenau Ende Januar 1945 aufgegeben und am 27. Januar von Aufklärungseinheiten der Roten Armee erreicht wurde. Denn die durchweg jungen Männer dieser speziellen Arbeitsabteilung galten den Handlangern des Völkermordes als gefährlich. Sie sollten über ihre furchtbaren Erlebnisse niemandem berichten können.

Auschwitz, Birkenau, Krematorium II Auschwitz, poln. Oswiecim (Polen), ehem. Konzentrationslager Birkenau (Auschwitz II), Krematorium und Gaskammer II (im Januar 1945 gesprengt). - Modell (Ausstellung in Auschwitz I, Block 4). - Foto, 1988. Aus dem Projekt: Memorials Archive.
Fotos vom Massenmord in Birkenau gibt es nicht. Hier ein Modell des Krematoriums II. Im Vordergrund die unterirdische Gaskammer
Quelle: picture alliance / akg-images

Doch Filip Müller (1922–2013) und mit ihm genau 99 weiteren Mitgliedern des Sonderkommandos gelang es, am 18. Januar 1945 während der Vorbereitung zur allgemeinen „Evakuierung“ des größten aller KZs ihre gewöhnlich von der SS gesondert bewachte Baracke zu verlassen. Sie schafften es sogar, sich in den Strom der Zehntausenden anderen Häftlinge einzureihen, die nach Westen marschieren mussten.

Verbrennung von Leichen ermordeter Juden vor dem Krematorium V in Birkenau im Frühjahr 1944
Filip Müller (1922 bis 2013) gehörte zu den jüdischen Auschwitz-Gefangenen, die die Leichen der Mordopfer verbrennen mussten
Quelle: rivat, Wikimedia/Alberto Errera

„Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich Auschwitz wirklich hinter mir gelassen hatte, und war mir nicht sicher, ob ich das alles vielleicht nur träumte“, erinnerte sich Filip Müller: „Immer wieder fragte ich mich, wie es kam, dass man uns übrig gebliebene Geheimnisträger des Sonderkommandos vor der Evakuierung nicht erschossen hatte. Ich fand keine vernünftige Antwort auf diese Frage.“ Er überlebte, was die SS als Todesmarsch geplant hatte. Doch noch war er nicht in Sicherheit. Es dauerte bis Anfang Mai 1945, bevor er in einem Außenlager des KZ Mauthausen befreit wurde.

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Filip Müller hatte den Holocaust überstanden. Genauer: die von der SS erzwungene Beihilfe zum hunderttausendfachen Mord an Juden aus mehr als einem Dutzend europäischer Länder. Denn das Sonderkommando in Birkenau, zu dem der 1922 in der Slowakei geborene Müller im Frühjahr 1942 abgeordnet worden war, musste die Mordmaschinerie in den vier großen Krematorien von Birkenau betreiben.

Nach der Selektion an der Rampe von Birkenau. Im typischen Drillich einer der jüdischen Häftlinge, die der SS beim Morden helfen mussten
Nach einer Selektion an der Rampe von Birkenau. Im typischen Drillich einer der jüdischen Häftlinge, die der SS beim Morden helfen mussten
Quelle: USHMM

In ihren längs gestreiften Drillich-Uniformen hatten die durchweg jungen und durchweg jüdischen Männer dieser Abteilung die für den sofortigen Mord ausgewählten, in der Sprache der Täter: „selektierten“ Menschen aus den Deportationszügen auf dem eigens eingezäunten Areal der Todesfabriken in Empfang zu nehmen. Sie mussten dafür sorgen, dass sie sich entkleideten und dann in die Gaskammern gingen, je in einen Keller bei den Krematorien II und III sowie je in vier verschieden großen oberirdischen Räumen in den Krematorien IV und V.

Deportationen in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau

Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau war das größte deutsche Vernichtungslager. Es wurde am 27. Januar 1945 durch Truppen der Roten Armee befreit. Bis dahin wurden dort mehr als eine Million Menschen ermordet.

Quelle: WELT/Sven Felix Kellerhoff/Sabrina Bracklow

Meist drückten die Arbeitshäftlinge auf Befehl der wenigen SS-Leute vor Ort die Menschen noch hinein in die Räume. Fast immer standen die Opfer in den Gaskammern dicht an dicht, wenn die luftdichten Türen geschlossen wurden und SS-„Sanitäter“ durch besondere Luken das Granulat mit dem Insektizid Zyklon B hineinschütteten.

Krematorium V im April 1943 in Birkenau
Das Krematorium V in Birkenau im April 1943
Quelle: Museum Auschwitz-Birkenau

Die anschließenden Minuten waren der Todeskampf von stets Hunderten, manchmal deutlich über tausend Menschen gleichzeitig – und die Männer des Sonderkommandos wussten, dass sie danach die oft ineinander verkrampften leblosen Körper aus der Gaskammer holen, ihnen Goldzähne herausbrechen und den weiblichen Leichen die Haare abschneiden mussten, um sie schließlich in speziellen Öfen oder im Frühjahr 1944 großen Gruben unter freiem Himmel zu verbrennen und die Asche zu verstreuen, oft im Flüsschen Sola.

Von allen Orten der Hölle auf Erden, die Auschwitz-Birkenau darstellte, waren die Krematorien die schlimmsten und die dort eingesetzten Häftlinge des Sonderkommandos die Unglücklichsten. Fast Tag für Tag mussten sie bei einem nie zuvor dagewesenen Massenmord mittun, und es gab nur eine Entscheidung: sich weigern und sofort zu sterben – oder mitmachen und so die winzige Chance zu wahren, der Apokalypse zu entkommen. In einer Situation, in der Überleben Widerstand war, entschloss sich Filip Müller gegen einen schnellen Tod – auch wenn das bedeutete, den Mördern zu helfen.

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„Der Leichenhaufen, den ich gesehen und an dessen Beseitigung ich gezwungenermaßen mitgewirkt hatte, bestärkte mich in dem Willen, alles zu tun, um nicht auf die gleiche Weise zugrunde zu gehen, nicht unter einem solchen Haufen von Leichen zu liegen und nicht auf dem Rollwagen in den Ofen geschoben, mit einer Eisengabel gestochen und schließlich in Rauch und Asche verwandelt zu werden“, erinnerte er sich: „Nein, alles, nur das nicht! Ich wollte nur eines: weiterleben.“

Nach dem Krieg sagte er 1947 im Krakauer Prozess sowie 1964 und 1966 in den ersten beiden Frankfurter Auschwitz-Verfahren aus. „Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte jeder von den Überlebenden ein Alleswisser sein, und das geheimnisvolle Sonderkommando hat sie so gereizt, dass sie vielmals fantasiert haben“, begründete Müller rückblickend sein Engagement: „Meine Aufgabe war es zu zeigen, was sich zwischen den Wänden abgespielt hat.“

Detailliert berichtete er, welches „Folterrepertoire“ sich einige der SS-Leute im Krematorium zugelegt hatten. Dazu zählte das „Froschschwimmen“, bei dem der SS-Unteroffizier Otto Moll willkürlich ausgesuchte Häftlinge in einen der Löschteiche neben den Krematorien jagte und mit vorgehaltener Waffe zwang, dort unter ständigem Quaken bis zum Tode aus Erschöpfung zu schwimmen. Oder das „Ziegelstoßen“, bei dem er zwei Häftlingsgruppen gegeneinander in der erfundenen Disziplin „Ziegelsteine zerschlagen“ antreten ließ. Die Gruppe, die verlor, erschoss er. Moll wurde im Dachau-Hauptprozess zum Tode verurteilt und 1946 in Landsberg gehenkt.

Etwa 1963 begann Müller, seine Erinnerungen zu notieren. Mehr als zehn Jahre benötigte er, um daraus ein Manuskript zu machen – als er fertig wurde, war er mit seiner Familie bereits aus seiner Heimat, der Slowakei, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in die Bundesrepublik ausgewandert und hatte sich in Mannheim eine neue Heimat aufgebaut. Weitere Jahre dauerte es, eine befriedigende deutsche Fassung herzustellen, und so erschien sein Buch „Sonderbehandlung“ 1979 auf Deutsch, im selben Jahr in englischer Übersetzung und 1980 auf Französisch.

Ein Gruppe Häftlinge bewegt sich nach der Selektion zum Krematorium im KZ Auschwitz. Die Menschen hatten zuvor nach ihrer Ankunft im KZ auf der Todesrampe nach Geschlechtern getrennt Aufstellung nehmen müssen. Dann folgte die Selektion. (Undatierte Aufnahme). Bei Auschwitz in der Nähe von Krakau (Polen) wurde 1940 von der SS (Schutzstaffel) ein Konzentrationslager eingerichtet, daß 1941 zum Vernichtungslager, vor allem für Juden, erweitert wurde. Schätzungen zufolge wurden in Auschwitz zwischen 2,5 und vier Millionen Menschen ermordet. [dpabilderarchiv]
Auschwitz-Birkenau: Ein langer Zug deportierter Frauen und Kinder nach der Selektion auf dem Weg in ihren Tod
Quelle: picture-alliance / dpa

Die Reaktionen der Öffentlichkeit auf sein Buch erschütterten Müller. Zwar gab es durchaus Interesse, aber zugleich wurde Müller das Ziel übler Attacken von Holocaust-Leugnern, die zu dieser Zeit gerade sehr aktiv waren. Als dann auch noch der französische Dokumentarfilmer Claude Lanzmann 1985 Müllers Bitte ignorierte, seine Interview-Passagen nicht in dem Neun-Stunden-Film „Shoah“ zu nutzen, zog er sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurück.

Daher gab es (abgesehen von einem Nachdruck 1980) keine deutsche Neuauflage seines Berichtes, nur einige Raubdrucke in anderen Sprachen. Erst Anfang 2022, mehr als 42 Jahre nach der Erstpublikation, hat die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt eine von den Erben Filip Müllers (er starb 2013 im Alter von 91 Jahren) genehmigte Neuausgabe herausgebracht. Ergänzt um ein instruktives Nachwort des Historikers Andreas Kilian, neben dem israelischen Forscher Gideon Greif wohl dem besten Kenner des Sonderkommandos von Birkenau, stehen damit diese erschütternden, meist nüchtern-kalt erzählten Erinnerung wieder auf dem Buchmarkt zur Verfügung.

A file picture dated in February 1946 of the cremetory of Auschwitz-Birkenau concentration camp in Oswiecim which was destroyed by Nazis. The world prepares to mark Holocaust Memorial Day on Thursday 27 January 2005 marking the 60th anniversary of the end of the Holocaust, and the liberation of the Nazi death camps, including Auschwitz in Poland. EPA/Reproduction B/W ONLY +++(c) dpa - Report+++
Das gesprengte Krematorium III in Birkenau, aufgenommen im Februar 1946
Quelle: picture-alliance/ dpa

Die Lektüre ist eigentlich unerträglich – weil die Erlebnisse Filip Müllers und seiner Leidensgenossen im Sonderkommando unerträglich waren. Typisch für seine Art, das Grauen zu dokumentieren, sind Sätze wie dieser: „Um 10.000 Menschen von Ungarn nach Birkenau zu transportieren, wurden rund 100 Eisenbahnwaggons benötigt. Nach ihrer Ermordung genügten einige Lastwagen, um die Asche, die von ihnen übrig geblieben war, zur Weichsel oder zur Sola zu schaffen.“

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Filip Müller überlebte den Untergang des Regimes, das ihn im Rassenwahn töten wollte wie Millionen andere Menschen, um mehr als 68 Jahre. Und er schaffte es, unvorstellbares Grauen zu dokumentieren. Eine Leistung, die nicht hoch genug zu bewerten ist.

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Dieser Artikel wurde erstmals im Januar 2022 veröffentlicht.

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„Die Opfer haben ein Recht auf Erinnerung“

In diesem Jahr jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 77. Mal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus gemahnt, die Erinnerung an die NS-Verbrechen aufrechtzuerhalten.

Quelle: WELT / Perdita Heise

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