Mehr als 10.000 Menschen sind nach Angaben der Polizei am Samstag zur zentralen Kundgebung der „Querdenker“-Bewegung auf den Cannstatter Wasen in Stuttgart geströmt, um gegen die Corona-Auflagen zu demonstrieren. Die Polizei war in der Stadt schon seit dem Vormittag mit Hunderten Beamten an verschiedenen Orten aufgestellt, weil zehn teilweise unterschiedliche Kundgebungen angemeldet waren.
Der Bürgermeister für Sicherheit, Ordnung und Sport, Clemens Maier, erklärte am Samstag: „Nun mussten wir am Nachmittag tausende Ordnungswidrigkeiten feststellen.“ Einzelne Vergehen hätten Polizei und Stadt direkt geahndet. „Zudem müssten alle, die ohne Maske und ohne Abstand auf den Kundgebungen durch die Stadt zogen, mit einer Ordnungswidrigkeits-Anzeige rechnen“, so Maier. Man werde sich auch mit der baden-württembergischen Landesregierung beraten, inwieweit aufgrund der Erfahrungen die Corona-Verordnung in Sachen Versammlungen angepasst werde.
„Die Bilder aus Stuttgart sind nicht schön, aber sie sind kein Vergleich zu den jüngsten Ereignissen in Brüssel, Kassel oder Dresden“, sagte Maier mit Blick auf Ausschreitungen in den anderen Städten. Der Tag in Stuttgart sei weitgehend friedlich verlaufen.
„Wir beobachten Tausende Ordnungswidrigkeiten – gegen diese jetzt und konkret vorzugehen, ist verhältnismäßig schwierig. Verstöße werden dokumentiert & nachverfolgt“, schrieb der Sprecher der Stadt Stuttgart, Sven Matis, bereits am Nachmittag auf Twitter.
Im Vorfeld gingen die Behörden von 2500 Teilnehmern in Stuttgart-Bad Cannstatt aus. Diese Zahl war bereits am frühen Nachmittag deutlich überschritten. Genaue Zahlen konnte die Stuttgarter Polizei allerdings nicht nennen. Die Anmelder gingen von 6000 Menschen aus.
Die „Querdenken“-Bewegung und ihre Mitstreiter sprechen sich gegen die derzeitigen Corona-Maßnahmen aus. Die Bewegung wird vom Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg beobachtet.
Auf die Frage, ob Menschen, die auf dem Weg zum Wasen waren, Masken trugen, sagte der Stuttgarter Polizeisprecher Stefan Keilbach: „Ich sehe hier 20 Leute mit Masken, und das sind Polizisten.“
Zuvor hatten Gegendemonstranten versucht, den Aufzug von Teilnehmern einer Versammlung gegen die Corona-Maßnahmen am Weiterzug zum Cannstatter Wasen zu hindern. „Sie standen teilweise vermummt mit Fahrrädern oder saßen auf der Bundesstraße 14 und sind auch jetzt noch vor Ort“, sagte ein Polizeisprecher am Nachmittag.
Die Polizei werde sie zur Not wegtragen müssen, denn die Straße müsse freigeräumt werden. Beamte versuchten es zunächst mit Ansprachen und Platzverweisen.
Ein Video bei Twitter zeigt, wie ein Demonstrant der „Querdenker“ am Rande von deren Zug versucht, einen Journalisten zu schlagen. „Verpiss dich, du Hurensohn“, sagt der Mann, nachdem er in Richtung des Gesichts seines Gegenübers ausholte. Wie die Polizei Stuttgart später bei Twitter schrieb, wurde der Tatverdächtige identifiziert. Ein anderer Fotograf berichtete, ein Teilnehmer hätte versucht, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Eine Schalte der „Tagesschau“ musste abgebrochen werden, weil der Reporter mit Steinen beworfen wurde.
Die Auflagen des Demonstrationszugs, der vom Marienplatz in der Stuttgarter Innenstadt zur zentralen Kundgebung auf dem Cannstatter Wasen unterwegs war, wurden laut Polizei größtenteils nicht eingehalten.
Die Beamten wiesen die Menschen immer wieder darauf hin, Masken aufzusetzen und die vorgeschriebenen Abstände einzuhalten. Polizeihubschrauber waren zur Dokumentation des Geschehens über dem Stadtgebiet im Einsatz.
In einem Tweet der Polizei hieß es: „Masken- und Abstandsverstöße werden von uns beweissicher dokumentiert.“ Ein Fotograf der Deutschen Presse-Agentur berichtete von einer Volksfeststimmung bei den Teilnehmern der Versammlung auf dem Marienplatz.
Die Polizei gab bekannt, gegen 12.30 Uhr 20 Personen „die mutmaßlich dem Rockermilieu angehören“ kontrolliert zu haben. Sie beschlagnahmten Quarzhandschuhe, pyrotechnische Gegenstände und Sturmhauben. Während der Kontrolle kam es zu Widerstandshandlungen, bei denen sich eine Polizeibeamtin leichte Verletzungen zuzog.
Ministerium sauer
Das baden-württembergische Gesundheitsministerium hat mit Unverständnis auf die Szenen im Stuttgarter Stadtgebiet reagiert. „Ich verstehe nicht, dass die Stadt sich sehenden Auges in diese Situation manövriert hat“, sagte Ministerialdirektor Uwe Lahl am Samstag. Sowohl schriftlich als auch in einem persönlichen Telefonat habe er dem Stuttgarter Ordnungsbürgermeister Clemens Maier die Möglichkeiten aufgezeigt, die die Corona-Verordnung des Landes auch für ein Verbot von Großdemonstrationen hergebe.
„Meine Prognose ist, dass die Hygieneregeln bei der Veranstaltung nicht eingehalten werden“, sagte Lahl schon am Freitag. Die Stadt Stuttgart sah zu diesem Zeitpunkt allerdings keine Handhabe für ein Verbot.
Wie solle man der Bevölkerung erklären, dass sich an den Osterfeiertagen nur fünf Menschen aus zwei Haushalten treffen dürften, während Tausende Demonstranten ohne Maske und ohne Mindestabstand durch die Stadt zögen. „Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, aber in einer Pandemie gibt es auch dafür Grenzen“, sagte Lahl.
Auch Bundesaußenminister Heiko Maas hat die Kundgebung scharf kritisiert. Alle hätten das Recht zu demonstrieren, schrieb der SPD-Politiker am Samstagabend auf Twitter. Wenn aber Tausende ohne Maske und Abstand unterwegs seien, „verstößt das gegen jede Regel und erst Recht gegen jede Vernunft“. Weiter rügte er: „Wer dabei mitmacht, gefährdet nicht nur seine eigene Gesundheit, sondern auch die von anderen.“