Panorama

Psychologin im Interview "Die Ukraine ist ein traumatisiertes Land"

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Nach Ansicht von Iryna Vselybska braucht jeder Ukrainer Hilfe und emotionale Unterstützung.

Nach Ansicht von Iryna Vselybska braucht jeder Ukrainer Hilfe und emotionale Unterstützung.

(Foto: picture alliance / AA)

Aus der Ukraine geflohene Psychologinnen und Psychologen haben selbst Fluchterfahrungen und bieten jetzt Landsleuten in Deutschland Hilfe an. Unter dem Dach der International Psychosocial Organisation (Ipso) helfen sie Ukrainerinnen und Ukrainern, mit Depressionen und Traumata klarzukommen. Darüber, wie die Ukraine insgesamt das Trauma des Krieges überwinden kann, spricht die aus Luhansk stammende Beraterin und Psychologin Iryna Vselyubska mit ntv.de.

ntv.de: Wer kommt zu Beratungen zu Ihnen?

Iryna Vselyubska: Es sind hauptsächlich Frauen. Wahrscheinlich sind nur zehn Prozent der Kunden Männer. Überwiegend kommen diese Männer aus den besetzten Gebieten, aus Luhansk und Donezk. Im Moment erhalte ich viele Anfragen zu den Beziehungen zwischen Kindern und Eltern. Wir haben aber nicht genug Kinderpsychologen, denn jeden Tag kommt eine solche Anfrage. Von den Eltern höre ich oft Äußerungen wie: "Mein Kind muss nicht lernen, wir gehen sowieso zurück." Da ist es schwierig, die Kinder motivieren, wenn die Eltern so etwas sagen.

Iryna Vselyubska setzt sich jeden Tag mit den verschidenen Zuständen bei der Ukrainern auseinander.

Iryna Vselyubska setzt sich jeden Tag mit den verschidenen Zuständen bei der Ukrainern auseinander.

(Foto: privat)

Sprechen Sie nur mit Ukrainerinnen und Ukrainern, die nach Deutschland geflohen sind und in Ihre Praxis kommen können?

Diejenigen, die in Deutschland sind, haben die Möglichkeit, sich dienstags sowohl online als auch persönlich beraten lassen. Aber im Moment haben wir nicht viel Platz für persönliche Beratungen, deshalb suchen wir nach humanitären Organisationen, die uns einen Raum zur Verfügung stellen können, was nicht einfach ist. Ich selbst arbeite in der humanitären Zentrale des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland (ASB), wie auch meine anderen Kollegen in Berlin. Ipso bot von Anfang an die Möglichkeit, nicht nur die Menschen in Deutschland zu beraten, sondern auch Ukrainer in der Ukraine oder in anderen Ländern.

Mit welchen psychischen Zuständen von Ukrainerinnen und Ukrainern haben Sie am häufigsten zu tun?

Der Zustand der Menschen hat sich sehr verändert. In den ersten Monaten des Krieges sprachen wir mit unseren Kunden nur über den Krieg, über die Angst, die Ungewissheit und darüber, wie zerbrechlich unsere Welt ist. Jetzt geht es mehr um Anpassungsschwierigkeiten im neuen Land, die Beziehungen zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern. Das heißt, die Menschen fangen an, weiterzuleben.

Die wichtigsten Optionen für Frauen sind nun, entweder im Ausland zu bleiben und "hier Wurzeln zu schlagen" oder sich selbst nicht leben zu lassen und auf das Ende des Krieges zu warten. Sie wissen nicht, ob sie die Sprache lernen sollen oder nicht, ob sie versuchen sollen, eine dauerhafte Wohnung und Arbeit zu finden, ob sie ihre Kinder beim Schulbesuch unterstützen. Es gibt auch viele Scheidungen. Viele Frauen haben herausgefunden, dass ihre Männer ein Verhältnis hatten, während sie weg waren. Oder sie selbst haben hier eine Beziehung aufgebaut. Wir sprechen über Beziehungen und über Schwierigkeiten und Gefühle, die sich aufgrund des Krieges angesammelt haben.

Warum hat die Zahl der Scheidungen zugenommen?

Ehegatten und Paare haben heute andere Probleme. Die Männer haben ständig Angst, in den Krieg zu ziehen, für sie steht im Mittelpunkt, zu überleben. Die Frauen im Ausland dagegen, mit oder ohne Kinder, fangen an, sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Selbst starke Familien stellen trotz ständigen Kontakts durch Anrufe und Skype fest, dass es eine Kluft gibt, weil sie mit jeweils anderen Problemen umgehen müssen.

Leiden die Ukrainer, mit denen Sie sprechen, an Depressionen?

Ja, natürlich. Eine der häufigsten Beratungsanfragen ist die nach einem Psychiater. In Deutschland ist es schwierig, einen Termin bei einem Psychiater zu bekommen, man muss sehr lange warten. Ich habe für meine Mutter einen Termin bei einem englischsprachigen Psychiater gebucht. Darauf mussten wir sechs Monaten warten. Bei russisch- oder ukrainischsprachigen Ärzten dauert es, glaube ich, noch länger. Bei manchen Leuten ist es schwierig, eine Depression zu diagnostizieren und dann rechtzeitig Medikamente zu kaufen - das dauert sehr lange. Aber was ich sehe, ist, dass viele Menschen eine Angst-Depressions-Störung haben.

Welches ist das schwierigste Problem, mit dem Sie sich auseinandersetzen müssen?

Ein häufiges Problem ist, dass die Menschen sich nicht erlauben zu leben. Es kommen Frauen, die sowohl unter Schlaflosigkeit als auch unter aufdringlichen Gedanken leiden, und sie haben auch ihre eigenen depressiven Episoden. Diese Frauen denken ständig darüber nach, wie sie später leben werden, was passieren wird, wenn sie zurückkehren. Das heißt, sie erlauben sich nicht, jetzt zu leben. Sie gehen zum Beispiel nicht in der Natur spazieren, haben keinen Spaß, genießen das Leben nicht. Sich in einem anderen Land heimisch zu fühlen, bedeutet für sie, das andere Leben zu verraten, das sie zu Hause gelassen haben. Die Menschen befinden sich in einer Art Starre, in einem Zustand des Wartens. Es gibt auch Fälle, in denen Mütter zur Beratung kommen, die sich nicht um ihre Kinder kümmern wollen oder können. Ihre Kinder rufen bei ihnen Gefühle der Wut hervor, und sie denken darüber nach, diese Kinder dem Staat zu übergeben, weil sie mit ihren Schwierigkeiten einfach nicht fertig werden. Es ist schwer, darauf zu reagieren.

Gibt es eine Geschichte, die Sie besonders beeindruckt hat?

Es gibt viele Geschichten, die mich in Erstaunen versetzt haben. Ich hatte eine ukrainische Kundin aus Portugal, die mich in Panik anrief und fragte, wohin sie gehen solle, weil dort angeblich Erdbeben erwartet würden. Sie wollte nach Spanien gehen, aber am selben Tag rief mich eine Kundin aus Spanien an und erzählte mir die gleiche Geschichte. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Art Massenpsychose und das Thema "hier ist es nicht sicher", das jetzt jeder hat.

Gibt es Menschen, die eine Therapie mit Ihnen gemacht haben und Ihnen ein positives Feedback gegeben haben?

Doch, natürlich. Es gibt Menschen, die ich persönlich in unserer Zentrale treffe, und ich sehe das Ergebnis, dass die Menschen weiterkommen. Die wirklich an sich selbst arbeiten wollen, weil sie bereits wissen, was ihr Problem ist, und sie lösen es nach und nach, weil sie wissen, in welche Richtung sie gehen müssen.

Haben die Ukrainer irgendwelche Abhängigkeiten entwickelt?

Die meisten Ukrainer, die in Flüchtlingsheimen leben, trinken viel. Jugendliche nehmen Drogen und rauchen, und Männer und Frauen trinken. Das ist wirklich ein Problem, denn oft wird die Polizei gerufen und es gibt Schlägereien unter den Ukrainer:innen. Erstens „muss“ niemand in Deutschland arbeiten gehen, und zweitens werden wohl kaum alle Ukrainerinnen hier einen Job finden, dadurch haben sie viel Zeit. Deshalb schließen sie sich in Gruppen zusammen und trinken schon am Morgen Alkohol. Natürlich sind das nicht alle, aber es gibt eine Tendenz.

Würden Sie sagen, dass die Ukraine insgesamt derzeit ein traumatisiertes Land ist?

Da bin ich mir sicher. Jeder Ukrainer, egal wo er oder sie ist, braucht Hilfe und emotionale Unterstützung. Wir leben jetzt in einer Zeit des Krieges und müssen auch mit den Folgen des Krieges zurechtkommen. Ich sehe für die nächsten Jahre nach Kriegsende große Schwierigkeiten voraus. Alle sind besorgt über das Schicksal des Landes, es herrscht Unsicherheit und Angst. Diejenigen, die sich mitten im Krieg befinden, haben mit lebensbedrohlichen Ängsten zu kämpfen. Menschen, die im Ausland sind, fürchten um ihr Land, wie sie sich anpassen werden, ob sie nach Hause zurückkehren werden, sorgen sich um ihre Verwandten, lesen ständig die Nachrichten, erhöhen das Niveau der Sorge.

Ich hatte eine Kundin, die mit ihren drei Kindern zu Beginn des Krieges in der Nähe von Kiew die Besatzung erlebt hat. Es war eine sehr schwierige Situation. Irgendwann hatten sie nichts mehr zu essen und zu trinken. Alle ihre Nachbarn waren erschossen worden, sie war völlig auf sich allein gestellt. Sie weiß selbst nicht, wie sie überlebt haben, wie sie da rausgekommen sind. Ich habe sie im Sommer gefragt, wie sie das alles verkraftet hat. Sie sagte, sie verstehe es selbst nicht, aber sie habe viele Techniken und sei psychologisch versiert. Damals war ich so begeistert von ihr, dass ich es nicht glauben konnte. Und dann war sie vor zwei Tagen wieder hier und erzählte mir, dass sie erst jetzt anfange, über das Erlebte zu träumen. Sie sieht sich diese Albträume wie einen Film an. Sie war in einem solchen Ausmaß desorientiert, dass ihre Psyche erst jetzt damit anfängt, die Erlebnisse zu verarbeiten. Ich denke, viele Menschen werden genau diesen Effekt haben.

Wie überwindet ein ganzes Land so ein Trauma?

Im Moment brauchen die Ukrainer all ihre Kraft und psychologischen Ressourcen, um zu überleben, um jeden Tag zu bewältigen. Und was es war, wie wir gelebt haben und wie wir es überstanden haben - das wird später kommen, und dieses "Später" ist auch ein sehr wichtiger Prozess, den wir durchlaufen müssen.

Ich glaube an die Ressourcen eines Menschen, dass er in der Lage ist, sich zu erholen. Die Hauptsache ist, dass er es will. Natürlich wird es nicht schnell gehen - es hängt alles davon ab, wie traumatisiert die Person war, ob sie das Land verlassen hat, ob ihre Verwandten gestorben sind oder ihr Zuhause verloren haben, woher sie kommt und aus welcher Region sie stammt, ob sie in irgendeiner Weise missbraucht worden ist. Es ist also alles sehr individuell.

Können Sie vorhersagen, wie sich die ukrainische Gesellschaft nach dem Krieg verändert haben wird?

Im Allgemeinen braucht ein Mensch mindestens zwei bis drei Jahre, um sich zu erholen - und das im ruhigen Format der Psychotherapie. Meinen ukrainischen Kollegen zufolge gibt es in der Ukraine viele kostenlose Unterstützungszentren, Hotlines und Psychiater für diejenigen, die allein nicht zurechtkommen. Das gibt einem den Glauben, dass wir es schaffen können.

Mit Iryna Vselyubska sprach Maryna Bratchyk

Quelle: ntv.de

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