Putin verlegt taktische Atomwaffen nach Weissrussland. Falls er sie einsetzen will, sind drei Szenarien vorstellbar

Taktische Nuklearwaffen bringen militärisch wenig. Zum Drohen sind sie dem Herrscher im Kreml aber durchaus von Nutzen.

Werner J. Marti 5 min
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Start einer ballistischen Kurzstreckenrakete vom Typ Iskander. Mit ihr könnte Russland einen taktischen Atomsprengkopf ins Ziel bringen. Ihre Einsatz-Reichweite beträgt rund 500 Kilometer.

Start einer ballistischen Kurzstreckenrakete vom Typ Iskander. Mit ihr könnte Russland einen taktischen Atomsprengkopf ins Ziel bringen. Ihre Einsatz-Reichweite beträgt rund 500 Kilometer.

Russisches Verteidigungsministerium via Reuters

Der fehlende Erfolg der russischen Armee in ihrem Angriffskrieg in der Ukraine hat in Europa die Angst verstärkt, dass der russische Präsident in einer Verzweiflungstat auch Atomwaffen einsetzen könnte. Putin selber hat bereits mehrmals angedeutet, dass er bereit sei, alle verfügbaren Mittel zu ergreifen, um seine Kriegsziele zu realisieren. Nun will er taktische Atomwaffen in Weissrussland stationieren. Die meisten westlichen Beobachter glauben weiterhin, dass das Risiko eines solchen Atomwaffeneinsatzes gering ist. Doch gleichzeitig wird auch anerkannt, dass die Gefahr angesichts der russischen Misserfolge wächst.

Regional begrenzte Wirkung

Doch was sind überhaupt taktische Atomwaffen, und wie müsste man sich einen solchen Einsatz vorstellen? Besser bekannt sind die strategischen Atomwaffen mit grosser Sprengkraft, die beispielsweise mit Interkontinentalraketen weit ins gegnerische Hinterland transportiert werden und dort ganze Städte zerstören können. Besitzen von zwei Kriegsgegnern beide die sogenannte Zweitschlag-Kapazität – das heisst, ein genügend grosser Teil ihres Nukleararsenals kann einen Angriff der anderen Seite überleben und in der Folge ebenso verheerend gegen den Angreifer eingesetzt werden –, so spricht man vom Gleichgewicht des Schreckens.

Dieses verhindert einen Angriff, zumindest solange sich keine Seite selbstmörderisch gebärdet. Militärtheoretiker erklären unter anderem damit die Tatsache, dass es während des Kalten Krieges nie zu einem direkten kriegerischen Konflikt zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt gekommen ist.

Im Gegensatz zu den strategischen Kernwaffen werden die taktischen auf dem Gefechtsfeld zur Bekämpfung der gegnerischen Streitkräfte eingesetzt. Die direkte zerstörerische Wirkung durch die Wucht der Explosion und die Verstrahlung ist bei diesen auf ein vergleichsweise kleines Gebiet beschränkt. Die Sprengkraft der taktischen Atomwaffen liegt zwischen 1 und 50 Kilotonnen TNT. Zum Vergleich: Die Bomben von Hiroshima und Nagasaki hatten eine Stärke von 13 beziehungsweise 21 Kilotonnen. Bei einer nuklearen Bodendetonation mit einer Sprengkraft von 10 Kilotonnen TNT würde eine Kreisfläche mit einem Radius von etwas mehr als einem Kilometer schwer verstrahlt und von mittleren bis schweren Druckschäden betroffen (siehe Grafik).

Schadensradien bei einer atomaren Bodendetonation

Richtwerte in Meter
Taktisch: 1 Kilotonne
Taktisch: 10 Kilotonnen
Strategisch: 100 Kilotonnen
Strategisch: 1 Megatonne

Von militärischer Bedeutung ist neben der Druckwelle auch der sogenannte nukleare elektromagnetische Impuls, eine starke elektromagnetische Strahlung, die dabei erzeugt wird. Diese zerstört im grösseren Umkreis alle nicht speziell geschützten elektronischen Geräte und elektrischen Anlagen.

Der geringe Wirkungsradius erlaubt einen Einsatz relativ nahe bei den eigenen Truppen. Typische Angriffsziele wären grosse Truppenansammlungen, militärische Hauptquartiere oder kriegswichtige Einrichtungen wie Flughäfen, Kraftwerke oder Industriebetriebe. Ins Ziel gebracht werden können die nuklearen Gefechtsfeldwaffen mit verschiedensten Systemen, von Kurzstreckenraketen, Cruise-Missiles oder Bombern über Torpedos aus U-Booten bis hin zu nuklear bestückten Artilleriegranaten.

Neben der Wucht der Explosion würde ein solcher atomarer Angriff auch eine direkte Verstrahlung eines grösseren Gebietes bewirken. Der Schaden wäre wohl weitgehend auf die Ukraine beschränkt. Doch der radioaktive Niederschlag – radioaktiver Staub, der durch die Explosion in die Atmosphäre gelangt – könnte in geringen Mengen mit dem Wind deutlich weiter getragen werden.

Doktrin der Russen und der Amerikaner

Während des Kalten Krieges schloss die Nato einen Ersteinsatz von taktischen Atomwaffen nicht aus. Nach dem Prinzip der «flexible response» hätte das westliche Verteidigungsbündnis auf einen massiven konventionellen Angriff der Warschauer-Pakt-Staaten mit Atomwaffen geantwortet, wenn angesichts einer sowjetischen Übermacht ein Angriff nicht anders hätte zurückgeschlagen werden können.

Nach dem Ende des Kalten Krieges verloren aber die taktischen Kernwaffen bei den Amerikanern ihre Bedeutung weitgehend. Die damals rund 9000 taktischen Atomsprengköpfe in den amerikanischen Arsenalen wurden auf heute rund 230 abgebaut. In den Beständen des Heeres, der Marine und im Marinekorps wurden sie komplett eliminiert, nur die Luftwaffe verfügt noch über einen Restbestand. Der Abbau trug dem Umstand Rechnung, dass mit modernen konventionellen Waffen auf dem Gefechtsfeld eine ähnliche Wirkung erzielt werden kann, ohne dass die radioaktive Verseuchung in Kauf genommen werden muss.

Auch die Russen haben die Zahl ihrer taktischen Atomwaffen im gleichen Zeitraum deutlich reduziert, von schätzungsweise 13 000 bis 22 000 auf ungefähr 2000. Gemäss der sowjetischen und später russischen Doktrin werden taktische Atomwaffen nur angewendet, wenn zuvor ein atomarer Angriff des Gegners erfolgte oder, im Falle eines konventionellen Angriffes, wenn das Überleben des Staates infrage gestellt ist. Wenn Putin unter den gegenwärtigen Umständen einen Einsatz befehlen würde, würde er also die eigene Militärdoktrin verletzen. Diese ist für ihn als Oberbefehlshaber aber letztlich nicht bindend.

Test einer taktischen Atombombe: Am 15. May 1953 wird auf dem Testgelände im amerikanischen Gliedstaat Nevada ein Atomsprengkopf mit einer Sprengkraft von 15 Kilotonnen von einer 280mm-Kanone verschossen und zur Explosion gebracht.

Test einer taktischen Atombombe: Am 15. May 1953 wird auf dem Testgelände im amerikanischen Gliedstaat Nevada ein Atomsprengkopf mit einer Sprengkraft von 15 Kilotonnen von einer 280mm-Kanone verschossen und zur Explosion gebracht.

Nevada National Security Site

Wie könnte ein Angriff ablaufen`?

Entschliesst sich Wladimir Putin dennoch dazu, taktische Atomwaffen einzusetzen, so sind mindestens drei Szenarien vorstellbar. Ein erstes wäre sozusagen ein Warnschuss, das heisst eine Explosion an einem Ort, an dem keine grosse Zerstörung angerichtet würde. Dies könnte beispielsweise eine Detonation über dem Schwarzen Meer sein oder unter dem Boden oder in einem Gebiet, das kaum bevölkert ist. Dies würde dazu dienen, ohne Verursachung schwerer Schäden der Ukraine und der Nato ernsthafter zu drohen und zu zeigen, dass Russland nicht vor einem Einsatz der Atombombe zurückschreckt.

Eine zweite Möglichkeit wäre ein Schlag gegen ein wichtiges militärisches Objekt oder eine bedeutende Infrastruktur der Ukrainer im Kampfgebiet. Es ist allerdings fraglich, ob dies den Russen militärisch viel bringen würde. Die ukrainischen Truppen sind weit im Lande verteilt, grosse Truppenkonzentrationen, welche die Tötung von einer grossen Zahl von Soldaten und die Zerstörung von viel militärischem Gerät ermöglichen würden, gibt es nicht. Zudem müsste Putin in oder nahe an einer Region zuschlagen, die Moskau nun als eigenes Staatsgebiet reklamiert.

Eine dritte Option wäre ein Angriff ausserhalb des eigentlichen Kriegsgebietes oder gar auf ein Nato-Land. Im ersten Fall dürfte der Schaden wesentlich grösser sein als der Nutzen, denn Russland würde dadurch definitiv zum Paria, und für die militärische Lage dürfte dies wenig ändern. Ein Angriff auf ein Nato-Land hätte zum Ziel, die Bevölkerung im Bündnisraum gegen den Krieg aufzustacheln und so die Nato-Staaten von der weiteren Unterstützung der Ukraine abzubringen.

Doch dies würde automatisch den Nato-Bündnisfall nach Artikel 5 auslösen. Eine massive Antwort des Westens wäre unumgänglich. Moskau würde sich dadurch einen noch wesentlich stärkeren Gegner schaffen. Welche Antwort die Nato-Staaten in diesem Fall bereit hätten, ist geheim. Indem sie Moskau im Ungewissen lassen, erschweren sie dessen Planung. Jake Sullivan, Präsident Bidens Berater für nationale Sicherheit, sprach für diesen Fall von «katastrophalen Konsequenzen» für Russland.

Dies müsste nicht unbedingt ein atomarer Gegenschlag sein. Denkbar wäre beispielsweise auch eine Ausschaltung der russischen Schwarzmeerflotte mit massiven konventionellen Mitteln, wie dies David Petraeus, der ehemalige CIA-Direktor und frühere Oberkommandierende der Nato-Truppen in Afghanistan, vorgeschlagen hat.

Für die Russen wäre ein atomarer Schlag kaum zielführend

Ein Einsatz von taktischen Atomwaffen brächte Putin somit kaum militärische Vorteile. Solange sich der Herrscher im Kreml rationale Überlegungen macht, muss er zu dem Schluss kommen, dass ihm ein Einsatz von taktischen Atomwaffen militärisch nicht aus der Patsche hälfe. Ist sein Handeln jedoch von blanker Wut getrieben, so wird auch ein Zurückweichen des Westens ihn längerfristig nicht von einem Rückgriff auf Atomwaffen abhalten. Die reine Drohung damit kann ihm hingegen sehr wohl hilfreich sein. Noch immer kann er darauf spekulieren, dass sich damit in gewissen Nato-Ländern die Bevölkerung gegen die Unterstützung des Verteidigungskampfes der Ukrainer mobilisieren lässt.